16. Mai 1995 - Kruzifix-Verordnung des Bundesverfassungsgerichts

Stand: 16.05.2020, 00:00 Uhr

"In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen", heißt es in der Bayerischen Volksschulordnung. Ein Elternpaar aus Nittenau bei Regensburg fühlt sich dadurch in ihrer per Grundgesetz garantierten Glaubensfreiheit verletzt. Und klagt 1991.

Die Eltern sind Anthroposophen. Sie verlangen, dass Kruzifixe in den Klassenräumen ihrer Kinder abgehängt werden – und zwar als "erneuerte Christen" nach der Lehre Rudolf Steiners, die "Christus in uns lebendig machen" wollen: "Ein Kind kann sich beim Anblick eines Leichnams nicht freuen. Wenn es ständig den Leichnam anschauen muss, wird ihm die Freude am lebendigen Christus genommen." Dieser Grundsatz bringt sie bis vors Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe.

Das Kruzifixurteil des BVG (am 16.05.1995) WDR 2 Stichtag 16.05.2020 04:15 Min. Verfügbar bis 14.05.2030 WDR 2

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Trennung von Kirche und Staat?

Am 16. Mai 1995 verkündet das Bundesverfassungsgericht, dass die bayerische Vorschrift verfassungswidrig sei. Sie sei "nicht mit der Neutralitätspflicht des Staates vereinbar". Das Anbringen eines Kreuzes in den Unterrichtsräumen "einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist", verstoße gegen die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit. Damit ist nicht grundsätzlich jedes Aufhängen eines Kreuzes in einem Klassenzimmer verfassungswidrig. Aber das Kruzifix muss weg, sobald es jemanden stört.

Bayerns offizielle Reaktion auf die Entscheidung ist zweideutig-eindeutig: "Dass wir das Urteil akzeptieren, ist keine Frage", sagt Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), "aber die Konsequenzen geben möglicherweise noch Spielraum, alles dabei zu belassen, wie es jetzt ist." Wo kein Kläger, da bekanntlich kein Richter. Das klappt lange gut.

Ein Kreuz in jeder Behörde

Aber das Kreuz mit dem Kreuz wird zu einer europäischen Sache. 2009 etwa verbietet ein Gericht Kruzifixe in Italiens Schulen. Ähnliche Prozesse gibt es in anderen Ländern. Schließlich wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angerufen. Und der urteilt für Viele überraschend: "Christliche Kreuze in Klassenzimmern verletzen keine Grundrechte, weder das Recht auf Bildung, noch das Recht auf Religionsfreiheit." Wen das Kreuz stört, der muss weggucken. Allerdings überlässt der Europäische Gerichtshof die Konsequenzen aus dem Urteil dem jeweiligen Mitgliedsstaat.

Anschließend wird es etwas ruhiger um die Kruzifixe. Bis Bayerns Ministerpräsident Söder 2018 einen Kruzifix-Zwang erlässt: für "jede Behörde, im Eingangsbereich sichtbar als Signal, wo der Freistaat herkommt und was seine Prägung ist". Auch dagegen wird geklagt, das Urteil steht noch aus.

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