Wenn er gefragt wird, was Flüchtlingsschutz bedeutet, liest Gerrit Jan van Heuven Goedhart ein Gedicht vor. Es steht auf einem kleinen Zettel, der in seinem Genfer Büro an der Wand hängt. Darauf hat ein Roma auf Deutsch notiert: "Der Mensch braucht ein Plätzchen / Und wär's noch so klein / Von dem er kann sagen / Sieh' hier, das ist mein / Hier lebe ich, hier liebe ich, hier ruhe ich aus / Hier ist meine Heimat / Hier bin ich zu Haus." Van Heuven Goedhart ist der erste Hohe Flüchtlingskommissar der UN, der Ende 1950 in das neue Amt berufen wird.
Der Holländer weiß aus eigener Erfahrung, was Flucht bedeutet. Er musste sich während des Zweiten Weltkriegs vor den deutschen Besatzern nach Großbritannien in Sicherheit bringen. "Die Umstände hatten mich zu einem Flüchtling gemacht, zu einem Menschen, der nicht wusste, wohin er gehen sollte", erinnert sich van Heuven Goedhart. Er wird am 19. März 1901 in Bussum bei Amsterdam geboren, studiert Jura, arbeitet aber bald als Journalist. "Man bot ihm eine Stelle in der Redaktion des 'Het Telegraaf' an, der damals bereits einflussreichsten Tageszeitungen der Niederlande", sagt Historiker Jeroen Corduwener. Van Heuven Goedhart wird Chefredakteur, überwirft sich jedoch mit den Verlegern, die seiner Ansicht nach zu unkritisch über das Nazi-Regime in Deutschland berichten lassen wollen. Er übernimmt die Leitung des "Utrecht Newsblad" und macht die Zeitung zu einem Sprachrohr gegen den Antisemitismus, den es zunehmend auch in den Niederlanden gibt.
Fühlt sich "wie ein glorifizierter Bettelstudent"
Van Heuven Goedhart wird zu einer der Hauptfiguren in der niederländischen Widerstandsbewegung. Er flieht 1944 aus den Niederlanden, da er zu den von den deutschen Besatzern meist gesuchten Personen zählt. "Es wurde mir bewusst, dass es nach dem Krieg viele Menschen in ähnlichen Umständen wie den meinen geben würde", sagt van Heuven Goedhart später. Ihm gelingt die Flucht über Spanien nach England, wo er Justizminister in der niederländischen Exilregierung wird. Nach Kriegsende übernimmt er zunächst einige Aufgaben in der Ende 1945 entstandenen UNO, bevor er ab dem 1. Januar 1951 das neu gegründete UN-Flüchtlingskommissariat leitet.
Zu tun gibt es genug: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Herrschaft irren Millionen Flüchtlinge durch Europa. Ein Hauptschauplatz ist die Bundesrepublik. In einem Interview von 1955 über die Lage in Deutschland sagt van Heuven Goedhart: "Nicht allein, dass es noch fast 350.000 Flüchtlinge gibt, die noch nirgends Fuß fassen konnten. 75.000 von ihnen leben noch unter uns in diesen deprimierenden Einrichtungen, welche wir Flüchtlingslager nennen." Obwohl er von den Regierungen der UNO-Mitgliedstaaten für seinen Einsatz gelobt wird, beklagt er sich bei seinen Mitarbeitern häufig über die abnehmende finanzielle Unterstützung. Er fühle sich oft "wie ein glorifizierter Bettelstudent". Als er 1954 stellvertretend für das UNHCR den Friedensnobelpreis entgegennimmt, spendet van Heuven Goedhart das Preisgeld für ein Wohnungsbauprojekt für Flüchtlinge in Österreich. "Es stand nicht ausreichend Wohnraum zur Verfügung, so dass viele Menschen in Erdlöchern hausen mussten", sagt sein Biograf Corduwener.
Mit Rücktritt gedroht
Es dauert noch bis Anfang der 1960er Jahre, bis die letzten Flüchtlingslager in Westdeutschland geschlossen werden. Gerrit Jan van Heuven Goedhart erlebt das nicht mehr. Er stirbt am 8. Juli 1956 im Alter von 55 Jahren in Genf beim Tennisspielen an einem Herzinfarkt - wenige Wochen, nachdem er mit seinem Rücktritt gedroht und es als Skandal bezeichnet hatte, dass zehn Jahre nach Kriegsende noch 65.000 Flüchtlinge in einem von Wohlstand strotzenden Europa im Elend leben müssten.
Das UN-Flüchtlingskommissariat, einst als Provisorium geschaffen, entwickelt sich im Lauf der Jahrzehnte zu einer humanitären Organisation mit rund 10.000 Mitarbeitern. "Wir sind in rund 130 Staaten aktiv", sagt Stefan Telöken vom UNHCR-Büro in Berlin. Durch die Flüchtlingsbewegungen in Richtung Norden sei es notwendig, auch wieder in Europa humanitäre Hilfe zu leisten. 1953 rief van Heuven Goedhart in einer Rede vor den Vereinten Nationen die Welt auf, den vielen deutschen Flüchtlingen zu helfen, die unter teils katastrophalen Bedingungen in Lagern hausen mussten: "Absoluter Frieden bedeutet für den Flüchtling genau das gleiche wie für jeden anderen auch: Die Freiheit zu glauben, die Freiheit zu sprechen, Freiheit von Angst und Freiheit von Entbehrungen, und schließlich die Möglichkeit für sich und seine Familie eine menschenwürdige Existenz aufzubauen."
Stand: 19.03.2016
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 19. März 2016 ebenfalls an Gerrit Jan van Heuven Goedhart. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.