Was mit leichter Hand skizziert scheint, ist das Ergebnis jahrelanger Studien: Der Zeichner und Grafiker Heinrich Zille befasst sich mit den Schattenseiten im kaiserlichen Berlin. Seine präzise beobachteten Momentaufnahmen aus den Hinterhöfen und Arbeitervierteln prangern das soziale Elend an.
Was der am 10. Januar 1858 in Radeburg bei Dresden geborene Zille zeichnet, hat er selber erlebt. Er kommt als Neunjähriger mit Vater, Mutter und Schwester nach Berlin, wo der Vater erst einmal keine Arbeit findet. Die Familie wohnt in einem feuchten Kellerloch.
Lehre als Lithograf
"Statt einem Bett", schreibt Zille später, "war ein Haufen Stroh in der Ecke. Überall waren Blutflecke von toten Wanzen." Sein Kommentar: "Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso gut töten wie mit einer Axt."
Mit 14 Jahren macht Zille eine Lehre als Lithograf. Gleichzeitig studiert er als Abendschüler an der "Königlichen Kunstschule". 1877 wird er als Geselle bei der "Photographischen Gesellschaft" in Berlin angestellt.
"Mein Milljöh"
1901 werden Zilles Arbeiten von der "Berliner Secession" ausgestellt - einer Gruppe, die gegen den herkömmlichen Kunstbetrieb opponiert. Dazu gehören Künstler wie Käthe Kollwitz und Max Liebermann. Auf dessen Vorschlag wird Zille später in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen und zum Professor ernannt.
Zille arbeitet für die Satirezeitschrift "Simplicissimus" und "Die lustigen Blätter". Der große Durchbruch gelingt ihm 1908 mit seinem Buch "Kinder der Straße". Es folgen der Bildband "Mein Milljöh" sowie die Zyklen "Hurengespräche" und "Berliner Luft". Seine Motive: Die kleinen Leute, die Armut, der Kampf ums Überleben.
Respekt für den "fünften Stand"
In der Weimarer Republik wird Zille zu einer Instanz. Ohne Parteizugehörigkeit engagiert er sich sozialpolitisch. Seine Kunst gibt den Porträtierten - er spricht vom "fünften Stand" - ihre Würde zurück. Sein Blick ist liebevoll karikierend und voller Respekt.
Morgens, noch vor dem Frühstück, füttert Zille gern die Spatzen auf dem Balkon. Sie sind für ihn die Proletarier unter den Vögeln.
Gedicht von Tucholsky
Zum 70. Geburtstag schreibt Kurt Tucholsky 1928 ein Gedicht für Zille: "Liebe, Krach, Jeburt und Schiss - Du hast jesacht wies is." Die Popularität des Berliner Originals ist auf ihrem Höhepunkt. Große Feierlichkeiten finden statt.
Bald darauf, am 9. August 1929, stirbt Heinrich Zille in Berlin. Er erhält ein Ehrenbegräbnis im brandenburgischen Stahnsdorf.
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