Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg: Zwei deutsche Staaten, Eiserner Vorhang und Funkstille. Am 7. Juni 1955 erreicht die Bundesregierung völlig überraschend eine diplomatische Note aus Moskau.
Die Regierung der Sowjetunion lädt Kanzler Konrad Adenauer (CDU) zum Staatsbesuch ein. Die Sowjets wollen direkte diplomatische Beziehungen zur BRD aufbauen - eine Sensation. Denn aus der Sowjetischen Besatzungszone ist die DDR geworden, die aber von Westdeutschland nicht als Staat anerkannt wird.
Kriegsgefangene zurückholen
Adenauer zögert, sagt aber schließlich zu. Ihm geht es um das Schicksal der rund 100.000 deutschen Kriegsgefangenen, die noch in der Sowjetunion vermutet werden.
Der Kanzler startet am 8. September 1955 an Bord einer "Super Constellation" der Lufthansa in Köln-Wahn und landet um 17 Uhr Ortszeit auf dem Flughafen Wnukowo bei Moskau. Empfangen wird er von Ministerpräsident Nikolai Bulganin, der ihn mit militärischem Pomp beeindrucken will.
Anspruch auf Alleinvertretung
Doch Adenauer übernimmt entgegen dem Protokoll die Regie - wie sich Rolf-Dietrich Keil erinnert, der damals als Dolmetscher mitgeflogen ist: "Dann hat er den Bulganin untergehakt und gesagt: Kommen Sie zu den Fotografen, das sind ja nun in unserer Zeit die wahren Diktatoren."
In der folgenden Ansprache versteckt Adenauer eine Kampfansage: Er hoffe, dass der erste Kontakt gute Beziehungen "zwischen Deutschland und der Sowjetunion" einleite. Adenauers Alleinvertretungsanspruch, für alle Deutschen zu sprechen, wird zum Reibungspunkt der Konferenz.
Gestikulieren mit der Faust
Hinter den Kulissen geht es bald dramatisch zu. Zunächst gestikuliert Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow mit der Faust, später auch Adenauer. Die Sowjets wollen Botschafter austauschen - damit aber würde die Teilung Deutschlands formell anerkannt.
Zudem sagen die Sowjets, sie hätten keine Kriegsgefangenen mehr. Es handele sich um Kriegsverbrecher. Als die Verhandlungen zu scheitern drohen, weist Adenauer den Rückflug an. Danach kommt es zur Einigung: Chruschtschow und Bulganin geben ihr Ehrenwort, dass die Kriegsgefangenen zurückgegeben werden. Allerdings: "Eine schriftliche Fixierung dieser Zusage wurde abgelehnt", sagt Delegationsteilnehmer Carlo Schmid (SPD) später.
Nach fünf Tagen erfolgt die Rückreise. Die Russen halten ihr Versprechen. Zwischen Oktober 1955 und Januar 1956 kommen die letzten deutschen Kriegsgefangenen frei. Die UdSSR und die BRD errichten jeweils Botschaften im anderen Land.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 8. September 2020 ebenfalls an den Beginn der ersten Moskau-Reise Adenauers. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 09.09.2020: Vor 435 Jahren: Armand-Jean du Plessis, Herzog von Richelieu, wird geboren