Es ist die meistbesuchte Baustelle der Welt: Rund drei Millionen Menschen reihen sich jährlich in die langen Schlangen um den Bauzaun der "Sagrada Familia" in Barcelona ein. Die der Heiligen Familie geweihte Kathedrale soll einmal die größte Kirche der Christenheit werden, mit nicht weniger als 18 Türmen. Der höchste soll auf über 170 Meter anwachsen und damit alle Kirchtürme in den Schatten stellen, die je errichtet worden sind.
Voraussetzung ist allerdings, dass die heutigen Bauherren die Vorstellungen von Antoni Gaudí umsetzen. Der junge Architekt übernimmt 1883 die Bauleitung für die aus Spenden finanzierte Kirche und entwickelt in den folgenden 43 Jahren eine Basilika mit bizarren Formen: tropfsteinhöhlenähnliche Kapellen, Säulen, die zu einer Blätter-Gewölbedecke emporwachsen und mit Figuren geschmückte Portale. Im Innern umspielt heute das Licht aus bunten Kirchenfenstern den hellen Stein. Ganz im Sinne von Gaudí, dem Meister von Formen und Farben.
Verrückter oder Genie?
Geboren wird Antoni Gaudí y Cornet am 25. Juni 1852 als Sohn eines Kupferschmieds im Süden Kataloniens. Der Arzt rät dem kränklichen Kind gemäßigte Bewegung. So durchstreift der Junge die Umgebung und inspiziert Pflanzen und Tiere, deren Formen ihn später als Bauvorlage dienen. Als Vierzehnjähriger verbringt er einen ganzen Sommer damit, die Ruinen eines Klosters in der Nähe seiner Heimatstadt Reus zu zeichnen.
"Ein alles beherrschender Gedanke trieb mich dazu, die Stabilität von Bauwerken zu erforschen", erinnert sich Gaudí später an seine Jugend. Nach der Schule studiert er Architektur in Barcelona. "Wer weiß, ob wir das Diplom einem Verrückten oder einem Genie gegeben haben - nur die Zeit wird es uns sagen", sagt der Rektor der Bauakademie in Barcelona über den später so berühmten Absolventen.
Verstorben im Armenhaus
Durch kleinere Aufträge lernt Gaudí den Unternehmer Eusebi Güell kennen, für den er ein Stadtpalais, ein Landhaus, eine Kirche und den Park Güell umsetzt. Leuchtend farbige Bauelemente lässt Gaudí aus Keramikscherben und Glasbruch umliegender Fabriken gestalten. Seine Gebäude mit den komplexen Formen und Mustern polarisieren von Anfang an. "Die Türme haben Schießscharten und sie sehen exakt aus wie Weinflaschen", lästert Schriftsteller George Orwell in einem Reisebericht über die "Sagrada Familia". Heute stehen sieben Gebäude Gaudís auf der Welterbeliste der UNESCO.
Das letzte Jahrzehnt seines Lebens widmet der Architekt ausschließlich der "Sagrada Familia". Am Ende lebt der fromme Junggeselle in seiner Werkstatt in der unfertigen Basilika. Im Juni 1926 wird Gaudí auf dem Weg zum Abendgebet von einer Straßenbahn erfasst. Ohne Papiere und in seinen schäbigen Kleidern hält man den Schwerverletzten für einen Obdachlosen und bringt ihn ins Armenspital, wo er am 10. Juni 1926 stirbt. Antoni Gaudí wird in der Krypta der "Sagrada Familia" beerdigt. Zu seinem 100. Todestag 2026 soll die Kirche nach derzeitigen Plänen vollendet sein.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. Juni 2016 ebenfalls an Antonio Gaudi. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.