"Eine Bande unheimlicher Menschen verfolgte das junge Mädchen, das mehr flog als lief. Schon ergriffen rohe Hände ihre flatternden Kleider", beschreibt der Autor Alexis Splingard in "Clarissa, aus dunklen Häusern Belgiens", was jungen Mädchen Schlimmes widerfahren kann.
Publikationen über Prostitution und Mädchenhandel sind zu Beginn 20. Jahrhunderts Bestseller. Die braven Bürger gruseln sich gerne bei der Lektüre sogenannter Tatsachenberichte, in denen sie pikante Details erfahren. Und auch Zeitungen sparen nicht mit Geschichten über die sogenannte "weiße Sklaverei".
Verelendung führt in die Prostitution
Wie groß das Problem tatsächlich ist, lässt sich heute kaum belegen. "Die Quellen, die es gibt, stammen in der Regel von Betreuern und Betreuerinnen beziehungsweise politischen Aktivisten", sagt die Historikerin Irene Franken. Die wissenschaftliche Kriminologie liefert kaum Beweise für einen weit verbreiteten Mädchenhandel.
Das weit größere Problem für Frauen sind ihre mickrigen Löhne als Näherin, Dienstmädchen, Kellnerin oder Küchenhilfe, die nicht zum Überleben in den Städten reichen. Gelegenheitsprostitution ist für viele die einzige Möglichkeit, ihr Einkommen aufzubessern.
Angst vor der Verschleppung ins Ausland
Aber die Berichte über Verschlepper, die Frauen in ausländische Bordelle locken wollen, schüren Ängste. "Es war vor allem die konfessionelle Frauenbewegung, die sich auf dieses Thema gestürzt hat", so die Historikerin Irene Franken. Auch weil Ehefrauen und Mütter nicht wollen, dass sich die Männer mit Prostituierten vergnügen. "Man hat gehofft, das Übel an der Wurzel zu packen, indem kein Nachschub mehr dorthin kanalisiert wurde."
Nationale Komitees zur Bekämpfung des internationalen Frauenhandels gründen sich, hochrangig besetzt und in Deutschland wohlwollend von der Kaiserin unterstützt. Bereits 1904 wird in Paris ein erstes internationales Abkommen geschlossen, im Mai 1910 folgt die zweite Vereinbarung.
Nur wenige Verurteilungen
Darin verpflichten sich das Deutsche Kaiserreich und 13 weitere Staaten unter anderem, das Anwerben und Verschleppen minderjähriger Frauen unter Strafe zu stellen.
Allgemein wird das Gesetz, das 1913 in Deutschland in Kraft tritt, begrüßt. Große Wirkung zeigt es indes nicht. Nur wenige Mädchenhändler werden in der Folge verurteilt. Und daran hat sich bis heute wenig geändert. Zwangsprostitution ist ein internationales Problem mit einer hohen Dunkelziffer. Der Großteil der Täter bleibt unentdeckt.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 4. Mai 2020 ebenfalls an das Abkommen gegen Mädchenhandel. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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