Nach dem deutschen Überfall im Zweiten Weltkrieg beginnt auch in den Niederlanden die systematische Entrechtung der Juden. Bald werden niederländische Juden auch in die Vernichtungslager im Osten gebracht und ermordet. In dieser Zeit gibt es einen Deutschen, der mehr als 3.000 Juden vor den Transporten in die Vernichtungslager rettet: Hans Calmeyer, ein Rechtsanwalt und Mitarbeiter der deutschen Besatzungsbehörde.
Teilnehmer am Hitler-Ludendorff-Putsch
Hans Calmeyer stammt aus Osnabrück. Der Vater ist Richter, die Mutter entstammt einem alten Kaufmannsgeschlecht. Seine älteren Brüder sterben im Ersten Weltkrieg. Student Hans schwärmt für links, dann für rechts. 1923 marschiert der Münchner Student beim Hitler-Ludendorff-Putsch mit, bevor er sich von der nationalistischen Ideologie abwendet.
Er verteidigt Osnabrücker Kommunisten vor Gericht, als die Machtübernahme der Nationalsozialisten sich bereits abzeichnet. Der 30-jährige Anwalt bekommt Berufsverbot. Ein Jahr später erhält er seine Zulassung zurück.
Am Krieg nimmt Calmeyer zunächst als Soldat teil. Zufällig trifft er einen alten Bekannten aus Osnabrück. Der besorgt ihm einen scheinbar ruhigen Job in der Besatzungsverwaltung in den Niederlanden. Calmeyer bezieht im März 1941 sein Büro in Den Haag, Hauptabteilung Inneres. Er entscheidet mit seiner Abteilung darüber, ob jüdische Niederländer nach der damals geltenden Logik als sogenannte Voll-, Halb- oder Vierteljuden eingestuft werden.
Kompetenz-Wirrwarr und Rettungs-Bürokratie
Calmeyer erkennt 1942 die Bedeutung seiner Dienststelle. Sein oberster Chef ist der Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart. Doch wie überall im Nazi-Reich gibt es ein Kompetenz-Wirrwarr. In den Niederlanden will die SS ihre Macht ausdehnen. Diese Rivalität zwischen Seyß-Inquart und SS nutzt Calmeyer für seine Zwecke.
Er schafft eine "Entscheidungsstelle in Zweifelsfällen der Abstammung". Sein Team aus bis zu sieben Mitarbeitern entwickelt eine kreative Rettungs-Bürokratie, indem er Juden zu "Halbjuden" erklärt. Hans Calmeyer geht ein hohes persönliches Risiko ein. Die SS holt 1944 zum Gegenschlag aus. Nur die nahe Front rettet Calmeyer wahrscheinlich vor der Enttarnung.
"Gerechter unter den Völkern"
Ein hoher deutscher Besatzungs-Funktionär als Judenretter? Das will bei Kriegsende niemand in den Niederlanden glauben. Calmeyer kommt in ein Internierungslager. Doch er wird freigesprochen. Calmeyer geht zurück nach Osnabrück und arbeitet wieder als Anwalt. Bis heute debattieren Historiker darüber, ob Calmeyer vor allem als Judenretter bezeichnet werden soll - oder als ein Rädchen im Vernichtungsgetriebe. Calmeyer selbst leidet auch nach dem Krieg darunter, dass sein Rettungsboot, wie er sagt, zu klein war. Dabei bewahrt Calmeyer mehr Juden vor dem Tod in den Vernichtungslagern als zum Beispiel Oskar Schindler. 1972 stirbt Hans Calmeyer an Herzversagen. Er erlebt nicht mehr, dass er später als ein "Gerechter unter den Völkern" in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem aufgenommen wird.
Autor des Hörfunkbeitrags: Heiner Wember
Redaktion: David Rother
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 3. September an Hans Calmeyerl. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 04.09.2022: Vor 115 Jahren: Todestag des norwegischen Komponisten Edvard Grieg