Ein Mensch, "der in einer unmenschlichen Zeit menschlich geblieben ist". So hat die Publizistin Inge Deutschkron den Fabrikanten Otto Weidt beschrieben. Sie war als junge Frau Teil seiner Belegschaft von rund 30 jüdischen Menschen, über die Otto Weidt seine schützende Hand hielt – und damit sein eigenes Leben riskierte.
Geboren wurde Otto Weidt am 2. Mai 1883 in Rostock. Er wächst in Berlin auf, wo er zunächst wie sein Vater als Tapezierer arbeitet. Als Pazifist täuscht er im 1. Weltkrieg ein Ohrenleiden vor und kann sich so der Einberufung entziehen. Es ist nicht das letzte Mal, dass ihm sein Schauspiel-Talent aus der Bredouille helfen wird.
Werkstatt mit jüdischen Mitarbeitern
Als er in den 1930er Jahren erblindet, gründet er – mittlerweile zum dritten Mal verheiratet – eine Werkstatt für Besen und Bürsten. Er hasst die Nationalsozialisten und beschäftigt vor allem jüdische Menschen.
Bürsten für den Schwarzmarkt
Nach außen lässt sich Otto Weidt seinen Hass auf die Nazis nicht anmerken. 1939 wird seine Werkstatt in der Rosenthaler Str. bei den Hackeschen Höfen zum wehrwichtigen Betrieb ernannt, was die Sicherheit seiner Mitarbeitenden erst einmal verbessert.
Allerdings finden nur wenige auf Kosten der Wehrmacht produzierte Bürsten und Besen den Weg an den Auftraggeber. Die meisten verkauft Weidt an Kaufhäuser oder tauscht sie auf dem Schwarzmarkt. So kommt er an Champagner, Zigarren und Parfüm. "Päckchen", mit denen er die Gestapo schmiert, wenn sie mal wieder seine Fabrik kontrolliert.
Berlin soll "judenrein" werden
Als sein ältester Mitarbeiter deportiert werden soll, inszeniert Otto Weidt eine Szene bei der Gestapo: Wie er denn weiterarbeiten solle, wenn man ihm die Arbeiter wegnehme. "Und ich weiß es nicht, aber ich nehme es an, dass er auch noch ein Päckchen mitgenommen hat", erinnert sich Inge Deutschkron später. Jedenfalls sei der Mann zurückgestellt worden.
Neben den Päckchen, die Weidt den NS-Leuten zukommen lässt, hilft ihm seine imposante Erscheinung. Otto Weidt ist groß, elegant, nervenstark und ein guter Lügner. Auch als die Gestapo 1941 fast die gesamte Belegschaft abtransportiert, inszeniert der Fabrikant ein Drama und holt seine Leute zurück.
Mitarbeiter bei Freunden versteckt
Er weiß aber auch, dass er sie nicht mehr lange beschützen können wird. Otto Weidt besorgt Verstecke für einige Mitarbeitenden, auch für seine junge Geliebte Alice Licht und ihre Eltern.
Aber die versteckten Juden werden bald verraten, nun werden sie doch deportiert. Otto Weidt kann noch dafür sorgen, dass seine Schützlinge nicht nach Auschwitz, sondern nach Theresienstadt gebracht werden sollen – dem angeblichen Vorzeige-KZ. Er schickt Pakete mit Lebensmittel, Kleidung und Medikamenten ins Lager.
Flucht aus dem KZ
Als er erfährt, dass Alice Licht, seine große Liebe, nach Auschwitz gebracht wurde, reist er ihr hinterher und lässt ihr einen Brief zukommen: "Ich habe für dich ein Zimmer gemietet im nahen Ort. Dort findest du Kleidung und Geld. Sieh zu, dass du dahin fliehen kannst und komm nach Berlin zurück."
Nach der Auflösung des Lagers, beim Todesmarsch gen Westen, kann Alice Licht fliehen und erreicht dank seiner Hilfe Berlin. Dort erlebt sie mit Otto Weidt und seiner Frau das Ende des Krieges. Dann emigriert sie in die USA - und lässt den Geliebten zurück. Otto Weidt stirbt zwei Jahre später mit 64 Jahren an Herzversagen.
Auszeichnung als "Gerechten unter den Völkern"
Die mutigen Taten von Otto Weidt geraten in Vergessenheit, keiner mag sich zunächst erinnern. In der DDR interessiert man sich nicht für den Kleinkapitalisten. Und im Westen will man seine Geschichte auch nicht hören. Sie straft die allgemeine Erzählung Lügen, man habe ja doch nichts tun können.
Erst 1971 wird Otto Weidt postum mit der höchsten Auszeichnung des Staates Israel an Nicht-Juden geehrt: Er wird zum "Gerechten unter den Völkern" ernannt. Nach der Wiedervereinigung entsteht in den Hackeschen Höfen in den Räumen der ehemaligen Blindenwerkstatt Otto Weidt ein Museum.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Claudia Belemann
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 2. Mai 2023 an Otto Weidt. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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