12. Oktober 1961: Der Journalist Kurt Lichtenstein erreicht in seinem Auto die Gemeinde Zicherie östlich von Wolfsburg. Knapp zwei Monate nach dem Berliner Mauerbau ist der 49-Jährige für die "Westfälische Rundschau" unterwegs. Für eine Reportage will er die 1.400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze von Lübeck bis Hof abfahren.
Zicherie ist Teil eines Doppeldorfes: Die Grenze zwischen der DDR und der BRD trennt Zicherie im Westen von Böckwitz im Osten. Diese Konstellation ist eine Art "Berlin im Kleinformat".
Erich Mielke kennengelernt
Lichtenstein hat einen besonderen Bezug zum ostdeutschen Regime. Geboren wird er am 1. Dezember 1911 in eine jüdische Familie in Berlin. Als Jugendlicher schließt er sich den Kommunisten an. Damit wird er im Nationalsozialismus gleich doppelt verfolgt. Mit seiner Frau flüchtet er in die Schweiz.
Er kämpft im Spanischen Bürgerkrieg, macht Kurierdienste im Widerstand gegen Hitler und lernt in dieser Zeit spätere SED-Größen wie Erich Mielke kennen. Seine Familie wird in Auschwitz ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg tritt Lichtenstein in die KPD ein und wird Landtagsabgeordneter in Düsseldorf. 1953 verlässt er die Partei wegen ihrer Fixierung auf Ost-Berlin und wechselt in die SPD.
Schüsse aus dem Wald
Es ist kurz nach zwölf, als Lichtenstein von Zicherie aus weiterfährt. Als er auf DDR-Gebiet Landarbeiter sieht, die Kartoffeln ernten, stoppt er am Grenzgraben. Er nimmt seine Kamera, steigt aus und ruft. Er will die Männer interviewen. Doch keiner reagiert.
Deshalb durchquert der Reporter den Graben, läuft über den gepflügten, zehn Meter breiten Kontrollstreifen. Was er nicht sieht: In einem Waldstück liegen zwei bewaffnete Grenzsoldaten. Sie geben zunächst Warnschüsse ab. Als Lichtenstein zurückläuft, fallen weitere Schüsse.
Mutiger Journalist oder feiger Verräter?
Lichtenstein wird getroffen und bleibt mit seinem Körper zu Dreivierteln auf der DDR-Seite liegen. Die Soldaten ziehen ihn ganz auf ostdeutsches Staatsgebiet und bringen ihn ins Krankenhaus. Dort stirbt er fünf Stunden später. Seine Leiche wird ohne Rücksprache mit den Angehörigen eingeäschert.
Kurt Lichtensteins Tod sorgt weltweit für Schlagzeilen, Sondersendungen im Fernsehen und diplomatische Proteste. In den westlichen Medien ist vom mutigen Journalisten die Rede, der in Ausübung seines Berufes aus dem Hinterhalt erschossen worden ist. Im Osten bezeichnet Chef-Kommentator Karl-Eduard von Schnitzler ihn als "Feigling, Verräter, Grenzverletzer und Provokateur".
Autor des Hörfunkbeitrags: Kay Bandermann
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 12. Oktober 2021 an Kurt Lichtenstein. Das "ZeitZeichen" gibt es auch als Podcast.
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