Der Berliner Modesalon Annemarie Heise läuft Anfang der 1940er-Jahre hervorragend - trotz des Zweiten Weltkriegs. Zum Kundinnenkreis gehören Frauen, die keine Berührungsängste mit den Nazi-Größen haben. Darunter sind die Schauspielerinnen Zarah Leander und Marika Rökk, aber auch die Ehefrauen ranghoher Nationalsozialisten: Magda Goebbels, Emmy Sonnemann-Göring und Anneliese von Ribbentrop. Sogar die geheime Geliebte des "Führers", Eva Braun, sucht sich hier ihre Garderobe aus.
Bedient werden die Frauen von Ina Ender. Die Schneiderin arbeitet auch als Beraterin, Verkäuferin und Vorführdame. Sie nutzt ihre Anstellung als Tarnung - denn Ina Ender engagiert sich im Widerstand, was niemand im Salon weiß. Die am 9. Juli 1917 in Berlin geborene Bildhauertochter hat Anfang der 1930er-Jahre über eine Schulfreundin Kontakte zu kommunistischen Kreisen bekommen.
Vier-Augen-Gespräch mit Eva Braun
Ina Ender ist unverdächtig. Ihr Foto ist auf der Titelseite der "Berliner Illustrirte Zeitung" erschienen. Gemacht hat es der Fotojournalist Hans Hubmann, der auch Adolf Hitler mit der Kamera begleitet. Die prominenten Kundinnen im Modesalon kennen sie und vertrauen ihr: "Man ließ mich mit ihnen allein. Ich durfte beraten, ich durfte bedienen, unter vier Augen mit ihnen sprechen."
Bei einer solchen Unterhaltung mit Eva Braun erfährt Ina Ender, weshalb Hitlers Freundin im Hochsommer 1941 Winterbekleidung bestellt. "Ich fragte, wozu sie die Wintersachen braucht." Die Antwort: Am 7. November soll Moskau von der Wehrmacht eingenommen werden. Dann möchte Eva Braun am großen Empfang teilnehmen. Damit ist klar, welchen Zeitplan und welche Stoßrichtung der deutsche Angriff hat. Eine wichtige Information für den Widerstand.
Schmuggeln für die "Rote Kapelle"
Ina Ender spricht mit dem Kommunisten Hans Coppi darüber. Er ist Mitglied in einer der Widerstandsgruppen, die später von den Nationalsozialisten als "Rote Kapelle" bezeichnet werden. Diese Gruppen sind dezentral in ganz Europa organisiert. Zum Berliner Widerstandskreis gehört auch der Luftwaffen-Offizier Harro Schulze-Boysen, zu dem Ina Ender ebenfalls in Verbindung steht.
Ina Ender arbeitet auch als Model bei Modeschauen. Eine dieser Schauen führt sie nach Brüssel, wo der Kommunist Leopold Trepper einem Spionage-Ring aufgebaut hat, der ebenfalls zur "Roten Kapelle" gezählt wird und Funkkontakt zu Moskau hat. Zwischen den Kleidern versteckt Ina Ender ein Päckchen, das sie in der belgischen Hauptstadt übergeben soll. Es gelingt ihr.
Wegen Flugblättern sechs Jahre Haft
In Berlin transportiert Ina Ender manchmal ein Funkgerät, getarnt als Bücherpaket. Im September 1942 wird Ina Ender verhaftet, weil sie Flugblätter verteilt hat. Ihre Kuriertätigkeit bleibt unentdeckt. Trotzdem wird die Widerstandskämpferin im Juni 1943 zu sechs Jahren Haft verurteilt - wegen Beihilfe zur "Wehrkraftzersetzung" und Vorbereitung zum "Hochverrat".
Ina Ender bleibt bis zum Kriegsende im Gefängnis. Danach wird sie in der sowjetischen Besatzungszone als stellvertretende Bürgermeisterin einer kleinen Stadt eingesetzt, später arbeitet sie bei der Kriminalpolizei und wird schließlich Leiterin einer Abteilung in der Handelsorganisation (HO).
Händedruck mit Stasi-Chef Mielke
Während im Westen die "Rote Kapelle" lange Zeit als Gruppe von Vaterlandsverräter diffamiert wird, sollen im Osten ihre Taten in eine Heldengeschichte unter kommunistischer Führung eingefügt werden. Auf einem Foto ist das SED-Mitglied Ina Ender beim Händedruck mit Stasi-Chef Erich Mielke zu sehen. Im Hintergrund guckt dessen Stellvertreter Markus Wolf freundlich in die Kamera.
In der DDR hält Ina Ender auch Vorträge über den antifaschistischen Widerstandskampf während des Nationalsozialismus. Nach der Wende stirbt Ina Ender am 27. März 2008 an ihrem Wohnort Lehnitz bei Berlin.
Autor des Hörfunkbeitrags: Thomas Klug
Redaktion: Matti Hesse
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 27. März 2023 an Ina Ender. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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