"Eine Kathedrale des Schienenverkehrs" oder "Kristallpalast der Mobilität" - so wird der Berliner Hauptbahnhof gepriesen, als er nach elfjähriger Bauzeit endlich fertig ist. Tatsächlich ist der Prestigebau nahe dem Regierungsviertel mehr als ein zentraler Bahnknotenpunkt. Er ist auch eine architektonische Attraktion.
Mehr als 100 Patente auf neue Konstruktionsverfahren melden die Ingenieure an. Neben 500.000 Kubikmetern Beton werden 85.000 Tonnen Stahl und über 150.000 verschiedene Glasscheiben verbaut. Doch am eindrucksvollsten ist, was man dem fertigen Gebäude gar nicht mehr ansieht: seine Betonhaut wird mitten ins Wasser gegossen.
Denn dort, wo der alte Lehrter Bahnhof die Stadtteile Berlins in Ost-West-Richtung verband, soll 15 Meter unter der Erde auch eine Nord-Süd-Achse entstehen. Ein 3,6 Kilometer langer Tunnel unter der Spree verbindet die neue Berliner Bahnzentrale mit dem Potsdamer Platz. Überirdisch errichtet Architekt Meinhard von Gerkan einen lichtdurchfluteten Konsumtempel, der auf drei Ebenen mehr als 80 Geschäfte beherbergt.
Aus zehn mach eins
Im Kaiserreich hat Berlin noch zehn Fernbahnhöfe, jeder in der Hand eines anderen Unternehmens. Passagiere müssen zur Weiterreise teils die ganze Stadt durchqueren. Nach dem Krieg bleibt im Westen nur der Bahnhof Zoo übrig, in der DDR wird der heutige Ostbahnhof zum Hauptbahnhof.
Nach dem Mauerfall braucht Berlin dringend einen neu konzipierten Knotenpunkt, um als Bahndrehkreuz Europas zukunftsfähig zu sein. Dieser wird mit dem Hauptbahnhof am 26. Mai 2006 eröffnet. Zur Feier des Tages fährt Angela Merkel mit dem ICE aus Leipzig ein. "Ich bin überwältigt", sagt die Kanzlerin und lächelt tapfer weg, dass die Geschichte des Bahnhofs auch Schattenseiten hat.
Verzögerungen und Kostenexplosion
Die Inbetriebnahme wird mehrfach verschoben, statt der geplanten 700 Millionen Euro verschlingt der Bau stolze 1,2 Milliarden. Um weitere Kosten und Zeit zu sparen - die Züge sollen spätestens zur Fußball-WM 2006 rollen -, verfügt Bahnchef Hartmut Mehdorn rigide Eingriffe in die Architektur. So wird etwa das Glasdach über den Stadtbahngleisen um 120 Meter verkürzt. Im Untergeschoss ersetzt eine schmucklose Flachdecke das vorgesehene Gewölbe.
Der empörte von Gerkan klagt - und bekommt Recht. Der Urheberprozess wird zum Präzedenzfall. Seitdem gilt: Die Gestaltungsinteressen des Architekten stehen über den ökonomischen Wünschen des Auftraggebers.
Doch zurück zur Eröffnung: Nach dem Abzug der Prominenz dürfen auch die zu Tausenden draußen wartenden Berliner ihren Hauptbahnhof von innen bestaunen. Mit dem RE 38366 nach Eberswalde startet um 00.29 Uhr der fahrplanmäßige "Regelverkehr". Heute strömen täglich rund 330.000 Reisende durch die Hauptstadt-Shopping-Mall mit Gleisanschluss.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Kerstin Hilt
Redaktion: Ronald Feisel
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