In und um Stuttgart herum fährt nicht nur "de schwäb'sche Eisenbahne". Die Kernstadt der fünftgrößten deutschen Metropolregion ist einer der wichtigsten Knotenpunkte im Netz der Bahn. Anfang der 90er Jahre herrscht Einigkeit darüber, dass der 1928 als Kopfbahnhof errichtete Stuttgarter Hauptbahnhof dringend saniert und den Erfordernissen des 21. Jahrhundert angepasst werden muss.
Doch als die Bahn 1994 überraschend ihren Masterplan "Stuttgart 21" für eine radikale Neugestaltung des Hauptbahnhofs veröffentlicht, regt sich Protest in der Schwaben-Metropole. Ein hypermoderner unterirdischer Durchgangsbahnhof soll entstehen; dazu sind massive Eingriffe im Stuttgarter Stadtbild erforderlich. Ohne sich mit Kritik und Einsprüchen auseinanderzusetzen, peitschen Bahn und Landesregierung das Mammutprojekt durch alle Planungsinstanzen.
Gewalt-Eskalation im Schlossgarten
Der Widerstand gegen "Stuttgart 21" eint die Bevölkerung auf breiter Front. Umweltschützer, Bürger aller Schichten, Jung und Alt gehen gemeinsam gegen das Projekt auf die Straße. Gehör für ihre Kritik an fehlender Planungstransparenz, Umweltbelastungen und explodierenden Kosten finden sie nicht. So werden Menschen, die sonst nie demonstrieren, aus Empörung über die Ignoranz der Verantwortlichen zu "Wutbürgern". "Da wird uns was reingewürgt, was wir nicht verstehen oder gar nicht wollen", beschreibt die Journalistin Uschi Götz die Stimmung unter den Demonstranten.
Unbeeindruckt von den Protesten schafft Baden-Württembergs Landesregierung im Februar 2010 Fakten. Zur Bauvorbereitung werden in Stuttgarts grüner Lunge, dem Schlossgarten, die ersten Bäume gefällt. Als am 30. September die nächste Rodungsaktion ansteht, versammeln sich die Bahnhofsgegner, darunter 2.000 Schüler, in dem Park. Ein Großaufgebot der Polizei geht massiv mit Wasserwerfern und Reizgas gegen die Demonstranten vor. Nach offiziellen Angaben werden bei der gewaltsamen Räumung des Schlossgartens 114 Menschen verletzt, 16 müssen in Krankenhäusern behandelt werden. Ein 66-jähriger Rentner erblindet fast völlig, nachdem er aus nächster Nähe von einem Wasserwerfer getroffen wurde.
Ende der Proteste nicht in Sicht
Solch ein brutales Vorgehen der Stuttgarter Polizei hat auch die Journalistin Uschi Götz bislang noch nicht erlebt: "Was sich da abgespielt hat, waren Szenen wie aus einer anderen Welt." Während die ganze Stadt geschockt auf das Vorgehen der Polizei reagiert, erklärt Innenminister Heribert Rech (CDU): "Ich habe keine Anhaltspunkte, ein Fehlverhalten der Polizei zu sehen." Schuld an der Eskalation sei das aggressive Verhalten der Demonstranten. In den folgenden 24 Stunden erlebt die Stadt den größten Massenprotest seit Beginn des Widerstands gegen "Stuttgart 21". Mit Trillerpfeifen und Vuvuzelas machen rund 100.000 Menschen ihrer Wut lautstark Luft.
Nach den dramatischen Ereignissen ordnet Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) als "deutliches Signal der Befriedung" die Einstellung aller Abrissaktionen an. Einen generellen Baustopp lehnt er ab - obwohl die anfangs veranschlagten 2,45 Milliarden Euro für den Tiefbahnhof inzwischen auf über vier Milliarden geschätzt werden. Live im Fernsehen finden im November 2010 unter Leitung von CDU-Politiker Heiner Geißler Schlichtungsgespräche mit den Baugegnern statt. Die danach von Experten überarbeiteten Baupläne werden aber von der Bahn abgelehnt. Die Protestaktionen der Stuttgarter Bürger gehen weiter, auch nachdem Baden-Württembergs Einwohner in einer Volksabstimmung mehrheitlich für die Vollendung von "Stuttgart 21" stimmen. Mehrere Bürgerbegehren beschäftigen weiterhin die Gerichte.
Stand: 02.10.2015
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