Von der Antike bis in die Neuzeit gilt die zerklüftete Hochgebirgsregion zwischen Iran und Indien nur als Reiseroute der Eroberer. Und nur sporadische Berichte britisch-indischer Kolonialagenten und wenige afghanische Hofchroniken beleuchten die Ereignisse der ersten afghanischen Reichsgründung von 1747.
Kein Reich im modernen Sinne
Ahmad Schah vom Stamm der Paschtunen zieht im Jahr 1747 mit seinen Truppen in seine Heimat Kandahar. Er ruft eine "Loya Jirga" aus, die große Stammesversammlung. Dabei wird er von den paschtunischen Stämmen zum Herrscher gewählt. Fortan nennt er sich "Perle der Perlen": Durr-e Durrani. Widersacher werden vom Regime des neuen Herrschers hingerichtet.
Es entsteht allerdings kein Reich oder Staat im modernen Sinne mit Institutionen und Verwaltung. Die Stämme huldigen dem Herrscher, solange er mit seinen Truppen präsent ist. Doch kaum dreht er ihnen den Rücken, gilt wieder ihre eigene Stammes-Souveränität.
Staat gegen Stamm
Conrad Schetter vom International Center for Conflict Studies in Bonn, sieht "bis Mitte des 19. Jahrhunderts kaum Ansätze von Staatlichkeit in Afghanistan". Statt einer einheitlichen Herrschaft werde Kandahar von dem einen beherrscht, Herat von dem anderen und Kabul von dem dritten.
Hochkompliziert ist damals wie heute die Struktur der afghanischen Bevölkerung: Ein Geflecht aus Stämmen, Clans, Dörfern und Talschaften mit zahlreichen verschiedenen Ethnien. In der Mehrheit Paschtunen, dann Tadschiken, Perser, mongolische Hazara, Belutschen und verschiedene Turkvölker. Identität und Loyalität gelten dem Stamm oder der Familie, nicht aber fernen Eliten in der Hauptstadt oder einem abstrakten Staat.
Bereits in diesen frühen Jahren besteht also ein Grundkonflikt: "Staat gegen Stamm. Das heißt, dass die Bevölkerung sich immer gegen den Einfluss von Staat gewehrt hat, Staat immer nur auf die Städte begrenzt blieb", sagt der Afghanistan-Experte Conrad Schetter. Eine Konstellation, die auch die kriegerische Geschichte Afghanistans im 20. und 21. Jahrhundert prägt.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Marfa Heimbach
Redaktion: Gesa Rünker/Christoph Tiegel
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 3. Juni 2022 an die Gründung des Reiches Afghanistan. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 04.06.2022: Vor 140 Jahren: Der Komiker Karl Valentin wird geboren