"Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund in großem Ausmaß um sich fräße", schreibt Anna Haag 1941 in ihr Heft. Nur wenige, ist sie überzeugt, haben Hitlers "Mein Kampf" gelesen. "Ich hatte es gelesen. Mein Mann hat es gelesen. Wir wussten genau, wo es hinführen muss", erinnert sie sich später.
Ihre Notizhefte versteckt sie vor der Gestapo und ihrem Schwiegersohn, einem strammen Nazi, im Kohlenkeller und vergräbt sie im Garten.
Was Anna Haag in ihren 20 Heften dokumentiert hat, widerspricht der gängigen Haltung, die Bevölkerung habe von den Verbrechen der Nationalsozialisten nichts gewusst. Ein möglicher Grund, warum nach Kriegsende Verlage lange kein Interesse zeigen, ihre Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Erst 2016 erscheint eine gekürzte und 2021 eine vollständige Ausgabe ihrer Tagebücher.
Autorin für Kurzgeschichten und Romane
Geboren wurde Anna Haag 1888 in der Nähe von Stuttgart. Als die Mutter krank wird, muss sie die Schule verlassen, um für die Großfamilie zu sorgen. Mit 21 heiratet sie den Mathematiklehrer Albert Haag. Seine Anstellungen führen sie nach Schlesien, Pommern und Bukarest, wo sie – inzwischen mit zwei Töchtern – für deutsche Zeitungen schreibt.
Nach dem Ersten Weltkrieg kehrt die Familie nach Stuttgart zurück. Anna Haag schreibt nun Kurzgeschichten und Romane. Schon 1919 treten sie und ihr Mann in die SPD ein. Als die Nazis an die Macht kommen, verliert Albert Haag seine Stelle. Auch die Texte von Anna Haag werden wegen ihrer pazifistischen Haltung nun zunehmend abgelehnt.
Das Tagebuch als Rückzugsort für ihre Gedanken
Dennoch will sie das von den Nationalsozialisten verursachte Unrecht für die Nachwelt festhalten. Sie beobachtet genau, sammelt Zeitungsartikel und schreibt Radiobeiträge mit. Dank ihrer pointiert formulierten Dialoge, steht der Leser praktisch neben ihr in der Straßenbahn, beim Bäcker oder im Hausflur und lauscht den absurden Argumenten der Nazi-Anhänger.
"Das Tagebuch wurde für sie auch zum Rückzugsort für ihre Gedanken", sagt Jennifer Holleis, Herausgeberin der Tagebücher von Anna Haag. "Sie schreibt ganz oft, dass sie das Gefühl hat, sie würde ersticken. Ihr stecken die Worte im Hals, die müssen irgendwie raus."
Pazifismus in der Verfassung verankert
Nach dem Krieg geht Anna Haag in die Politik, um ein Deutschland aufzubauen, das sie "wieder lieben" kann, und sie engagiert sich intensiv für die Frauenförderung. Als Mitglied des ersten Landtags von Baden-Württemberg bringt sie den Gesetzentwurf ein: "Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Dieser wird später – ergänzt um "gegen sein Gewissen" – ins Grundgesetz übernommen.
Mit dem Zustand der Demokratie ist sie dennoch nicht zufrieden: "Sie ist nicht so, wie ich es mir erträumt habe, aber Träume gehen ja in der Regel nicht in Erfüllung." Die Autorin und Sozialpolitikerin stirbt am 20. Januar 1982 mit 93 Jahren in Stuttgart.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Maren Gottschalk
Redaktion: Hildegard Schulte
Programmtipps:
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 20. Januar 2022 an Anna Haag. Das "ZeitZeichen" gibt es auch als Podcast.
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