"Alles hat damit angefangen, weil mein Haus zu groß war", sagt Abbé Pierre. "Ich hatte nach dem Krieg sehr günstig ein verlassenes Haus kaufen können." Der Priester will eine Jugendherberge daraus machen. Doch 1949 beherbergt er einen Mann, der sich umbringen will. Abbé Pierre bringt ihn davon ab, indem er ihn fragt: "Könntest du mir vielleicht helfen, mein Haus zu renovieren?"
So entsteht die erste Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die Abbé Pierre "Emmaus" nennt. Der Name stammt aus der Bibel: Nach der Kreuzigung von Jesus sind zwei verzweifelte Jünger nach Emmaus unterwegs. Sie erkennen den Auferstandenen nicht, als er zu ihnen stößt. Da Jesus allein weiterziehen will, laden ihn die beiden Jünger ein: "Bleib doch bei uns."
"Dinge umkehren"
"Das ist es, was Emmaus ausmacht: Menschen aufnehmen, die in Schwierigkeiten sind. Ihnen sagen, dass sie gebraucht werden", erklärt Laurent Desmard, langjähriger persönlicher Sekretär des Priesters. "Dass wir sagen: 'Wir brauchen deine Hilfe.' Wir kehren die Dinge um."
Auch Abbé Pierre gibt seinem Leben eine Wende: Der Fabrikantensohn, der 1912 als Henri Antoine Grouès in Lyon geboren wird, tritt in den Bettelorden der Kapuziner ein, statt die Firma der Familie zu übernehmen.
In der Résistance
Im Zweiten Weltkrieg schließt er sich der Résistance an und gibt sich den Decknamen Abbé Pierre. Während des Vichy-Regimes hilft er Juden und politisch Verfolgten, in die Schweiz zu gelangen.
Als er den Bruder von General de Gaulle über die Grenze bringen will, wird er von der Gestapo gefasst und dem Bischof von Madrid übergeben. Dieser schickt ihn nach Algerien. Nach Kriegsende wird Abbé Pierre Abgeordneter der französischen Nationalversammlung.
Lumpen sammeln
Ab 1951 konzentriert er sich auf sein soziales Engagement. "Als ich das Parlament verlassen hatte, waren wir 18 Gefährten. Und ich hatte keinen Pfennig mehr." Sie sammeln Lumpen, um ihre Projekte zu finanzieren.
Im Winter 1954 hält Abbé Pierre eine Radioansprache und bittet um Hilfe. Der Aufruf macht ihn weltbekannt. Es kommt zu einer der ersten großen Spendensammlungen für Obdachlose in Frankreich.
Beliebt und umstritten
Abbé Pierre wird regelmäßig zum beliebtesten Franzosen gewählt. Es gibt aber auch Kontroversen um ihn. Er gibt zu, nicht immer keusch gewesen zu sein. Und er entschuldigt sich, nachdem er sich mit einem befreundeten Holocaust-Leugner solidarisiert hat.
Abbé Pierre stirbt am 22. Januar 2007 in Paris. Emmaus-Gemeinschaften gibt es heute in mehr als 30 Ländern.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Andrea Kath
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. Januar 2022 an Abbé Pierre. Das "ZeitZeichen" gibt es auch als Podcast.
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