Krönung der Kulturgeschichte, Gipfel der Gattung, Meisterwerk der Menschheit – wenn die Rede auf Beethovens Neunte kommt, kann man sich vor Superlativen (und Alliterationen) kaum retten. Wo soll man auch anfangen bei dieser Sinfonie, über die alles gesagt zu sein scheint und die sich doch nicht in Worte fassen lässt?
Die Lösung vor Augen
Wo kam die Neunte nicht überall zum Einsatz: Sie wurde für die Europahymne ebenso herangezogen wie für das Fassungsvermögen der CD (74 Minuten, so lang wie Furtwänglers Bayreuther Aufnahme aus dem Jahr 1951); sie erklang unter Leonard Bernsteins Leitung kurz nach dem Fall der Mauer in Berlin und kürzlich beim G20-Gipfel in der Hamburger Elbphilharmonie (vermutlich vor weit weniger euphorischem Publikum). Schon Claude Debussy konstatierte 1901 leicht enerviert: "Man hat sie in einen Nebel von hohen Worten und schmückenden Beiworten gehüllt. Sie ist – neben dem Lächeln der Mona Lisa – das Meisterwerk, über das am meisten Unsinn verbreitet wurde. Man kann sich nur wundern, dass es unter dem Wust von Geschreibe, den es hervorgerufen hat, nicht schon längst begraben liegt."
Ohne dem "Wust" allzu viel hinzufügen zu wollen: Bahnbrechend war sie natürlich, Beethovens Idee, das Finale einer eigentlich ja rein instrumentalen Sinfonie mit Gesangssolisten und einem Chor anzureichern. Jahrelang ging er mit diesem Einfall schwanger, ohne den letzten Dreh und einen würdigen Text zu finden. Dabei hatte er die Lösung – wie das manchmal so ist – die ganze Zeit vor Augen gehabt. Denn schon 1793 in Bonn, als Mittzwanziger, hatte sich Beethoven für Schillers "Ode an die Freude" begeistert und den Plan geäußert, sie als Klavierlied zu vertonen. Aber erst 30 Jahre später zählte er eins und eins zusammen und integrierte sie in seine neunte Sinfonie.
"Was ich bin, bin ich durch mich"
Schiller – der bereits 1805 gestorben war – hätte darüber vermutlich nur den Kopf geschüttelt. Er betrachtete sein Gedicht als Gelegenheitswerk, im Überschwang hin gekritzelt als Geschenk für einen Freund aus der Freimaurerloge und ob des hehren Pathos eigentlich nicht veröffentlichungswürdig. Beethoven sah das ganz anders. Für ihn brachte die Zeile "Alle Menschen werden Brüder" eine humanitäre Utopie auf den Punkt, eine Art persönliches Credo. Zeit seines Lebens schwärmte er für Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und legte sich auch mal mit hochnäsigen Adeligen an: "Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich."
Bei aller Fokussierung auf das Chorfinale wird mitunter vergessen, dass ihm drei Sätze vorausgehen. Auch sie stellten Beethovens bisheriges Schaffen in den Schatten: "Kein Kopfsatz, den man sich monumentaler, kein Scherzo, das man sich wilder und bacchantischer denken könnte, kein Adagio, dem ein größeres Maß an Beseeltheit und Versunkenheit innewohnte", fasst es Martin Geck im Beethoven-Handbuch zusammen. Allein wie zu Beginn der Sinfonie die Musik aus einem weder Dur noch Moll zu nennenden Urnebel erst langsam Gestalt annimmt, ruft quasi evolutionäre Assoziationen hervor.
"Frei von all dem Elend"
Besonders lange modellierte Beethoven an der Struktur des vierten Satzes. Darin verschränkt er zunächst eine Folge von Rückblicken auf die vorausgegangen drei Sätze mit instrumentalen Antizipationen des eigentlichen (Vokal-)Finales. Eine zentrale Rolle kommt dabei der schrill-dissonanten "Schreckensfanfare" (Richard Wagner) zu, die die brüderliche Utopie bedroht. Ihr stellt sich der Bass-Solist mit einem Rezitativ entgegen, dessen Text Beethoven selbst schrieb: "O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen, und freudenvollere!" So wird der Weg freigemacht für eine der berühmtesten Melodien überhaupt, ein Hymnus, der Beethovens und Schillers Botschaft hinaussingt in die Welt. Wobei die Genialität auch hier im Detail steckt. Denn ihre Eingängigkeit beruht auf einer recht schlichten Tonfolge und einem einförmigen Rhythmus – dem Beethoven den gewissen Kick verleiht, indem er den Beginn der Zeile "Alle Menschen werden Brüder" synkopisch vorzieht, als könnten es die Brüder gar nicht erwarten.
Angesichts der vielen Neuerungen reagierten Beethovens Zeitgenossen zwiegespalten auf die Neunte. So bezeichnete Louis Spohr sie als "monströs, geschmacklos und trivial". Die Uraufführung am 7. Mai 1824 im Wiener Kärntnertortheater war jedoch ein grandioser Erfolg. Man musste dem völlig ertaubten Beethoven am Ende allerdings erst bedeuten, sich zum jubelnden Publikum umzudrehen. Auch vor diesem Hintergrund bleibt die existenzielle Wucht von Beethovens Musik ein Phänomen. Er selbst beschrieb sie so: "Wem meine Musik sich verständlich macht, der wird frei von all dem Elend, womit die anderen sich schleppen."