Auf den ersten Blick erscheint es attraktiv, das jüngste Tarifangebot, das die Deutsche Bahn der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG unterbreitet hat: Bis zu zwölf Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten, bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Außerdem sollen sie noch in diesem Jahr eine Prämie von 2.850 Euro bekommen, als Ausgleich für die hohe Inflation. Doch die EVG hat das Tarifangebot als unzureichend abgelehnt. Ist das überzogen?
Nicht unbedingt, sagt Lovis Krüger aus der WDR-Wirtschaftsredaktion. "Die EVG hat eine durchaus noch berechtigte Kernforderung, auf die die Bahn bislang nicht eingegangen ist“, sagt er. So pocht sie auf einen Sockelbetrag für die Beschäftigten von mindestens 650 Euro brutto mehr pro Monat. "Das klingt nach sehr viel Geld, aber angesichts der hohen Inflation ist diese Forderung nachvollziehbar", so Krüger.
Konkurrenzkampf zwischen den Gewerkschaften
Wobei es aus seiner Sicht nicht nur die Inflation ist, die den Tarifkonflikt zwischen Bahn und EVG anheizt. Dahinter steckt auch ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Denn im Bahnkonzern gibt es zwei Gewerkschaften – neben der EVG auch die deutlich kleinere Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Beide versuchen, sich gegenseitig Mitglieder abzujagen. "Die EVG könnte sich profilieren, wenn sie ein ordentliches Plus für die Beschäftigten herausschlagen kann“, sagt Lovis Krüger.
Die GDL unter ihrem Chef Claus Weselsky vertritt vor allem die Interessen der Lokführerinnen und Lokführer bei der Bahn. Weselsky ist für ein hartes Auftreten in Tarifkonflikten und häufige Warnstreiks bekannt. Doch noch ist es einige Monate hin, bis die Friedenspflicht für die GDL zum November ausläuft und auch dort über einen neuen Tarifvertrag verhandelt wird.
Demnächst unbefristete Streiks?
Zurück zur EVG: Weitere Verhandlungen, wie aktuell von ihr gefordert, lehnt die Bahn bislang ab. Insofern dürfte es zu einem erneuten Warnstreik kommen – "voraussichtlich Anfang nächste Woche", so die Einschätzung von Krüger.
Denkbar wäre auch ein Warnstreik rund um Fronleichnam – ein Feiertag, der in der kommenden Woche traditionell auf einen Donnerstag fällt und an dem wegen des Brückentags am Freitag viele einen Kurzurlaub planen.
Wenn es hart auf hart kommt, ist auch eine spätere Urabstimmung über mögliche unbefristete Streiks nicht ausgeschlossen. "Das ist natürlich eine Option, die bei uns in der Organisation diskutiert wird“, so EVG-Tarifvorständin Cosima Ingenschay am Mittwoch.