Rechte tödliche Gewalt: Mehr Taten als bislang bekannt
Aktuelle Stunde . 03.09.2024. 14:55 Min.. UT. Verfügbar bis 03.09.2026. WDR. Von Martina Koch.
NRW stuft alte Tötungsdelikte als rechtsextreme Taten ein
Stand: 03.09.2024, 17:25 Uhr
Das Landeskriminalamt in NRW bewertet mehrere Gewaltdelikte mit Todesfolge nachträglich als Taten mit rechtsextremistischer Motivation. Die Kriminalstatistik soll teilweise korrigiert werden, wie Innenminister Reul mitteilte.
Von Martin Teigeler
Am Dienstag teilte das NRW-Innenministerium mit, dass mehrere Tötungsdelikte aus den letzten Jahrzehnten durch das LKA "nachträglich als Taten mit rechtsextremistischer Motivation" eingestuft werden.
Insgesamt gelten sieben erneut untersuchte Verbrechen als Fälle "mit politischer Tatmotivation" - darunter sind unter anderem rechtsmotivierte Tötungsdelikte aus den Jahren 1995, 1997 und 2005 sowie weitere Fälle.
Drei Beispiele - um welche Fälle geht es
- Velbert 1995: Der Obdachlose Horst P. schläft nachts auf einer Parkbank und wird von einer mehrköpfigen Gruppe attackiert und getötet. Hintergründe finden sich auf der Webseite der Amadeu Antonio Stiftung.
- Bochum 1997: Der Rentner Josef Anton G. stirbt nach der brutalen Attacke von zwei jungen Männern mit einem Stahlrohr. Weitere Informationen zur Tat auf der Webseite der Amadeu Antonio Stiftung.
- Dortmund 2005: An einer U-Bahn-Haltestelle wird der Punker Thomas "Schmuddel" S. von einem 17-Jährigen erstochen. Hintergründe zur Tat gibt es im Blog Störungsmelder der "Zeit".
In diesen drei Fällen wurden durch die Polizei Täter festgenommen. Medien berichteten auch über Ermittlungen zu rechtsradikalen Hintergründen der Taten. Es kam zu Verurteilungen. Dennoch tauchte das rechtsextreme Tatmotiv danach nicht in der Polizeistatistik auf. Im Dortmunder Fall kam der Täter schon nach wenigen Jahren Jugendhaft auf freien Fuß.
Reul nennt Neubewertung erforderlich
NRW-Innenminister Reul (CDU)
Es sei "erforderlich" gewesen, dass man "Fälle aus der Vergangenheit neu betrachtet und bewertet", sagte Innenminister Herbert Reul (CDU). Rechtsextremismus müsse "als solcher benannt und in der Statistik erfasst sein". Reul sprach von einem "Stück gelebter Fehlerkultur".
Das LKA hatte 30 zurückliegende Gewaltdelikte aus den Jahren 1984 bis 2020 mit Todesopfern aus NRW auf einen möglichen rechten Hintergrund überprüft. Zuständig war ein interdisziplinäres Expertenteam.
"Selbstkritische Betrachtung"
nnenminister Reul bei der Vorstellung der LKA-Neubewertung
Das Projekt sei "Ausdruck einer reflektierten und selbstkritischen Betrachtung innerhalb der Polizei NRW", hieß es im Abschlussbericht. Die LKA-Experten zogen bei ihrer Arbeit alte Gerichtsurteile und Verfahrensakten hinzu.
Anlass für die ausführlichen Untersuchungen zu alten Fällen war die Neubewertung des Dreifachmords von Overath im Jahr 2003, der im April 2022 als rechtsextremes Tötungsdelikt anerkannt wurde.
In vielen Fällen gab es seit Jahren Forderungen von Opferangehörigen und aus der Zivilgesellschaft, die Taten als rechtsextremistisch einzustufen.
Unterschiedliche Angaben zu rechtem Tatmotiv
Während offiziellen Angaben zufolge seit der Wiedervereinigung 113 Menschen durch Rechtsextremisten in Deutschland starben, kommen etwa "Tagesspiegel" und "Zeit online" auf 190 Todesopfer.
In etlichen Fällen wurde vom LKA nun jedoch keine Neubewertung für Fälle in NRW vorgenommen. Manchmal fehlten Akten. Bei anderen Taten, so hieß es, konnten die Experten keine Anhaltspunkte für ein rechtes Motiv finden oder Tatverdächtige galten als schuldunfähig. Das Expertengremium war sich den Angaben zufolge auch nicht immer einig.
So gehörte zu den untersuchten Fällen laut Projektbericht auch der Brandanschlag von 1984 in Duisburg. Sieben Mitglieder einer türkischen Familie wurden getötet. Erst zehn Jahre später kam es zu einer Verurteilung - an ein rassistisches Motiv der Brandstifterin glaubt die Polizei aber bis heute nicht. Der Fall wird im Abschlussbericht als "Pyromanin Duisburg" abgekürzt. Dass die Tat "rechtsmotiviert" gewesen sein könnte, wird knapp mit einem "nein" dementiert.
Reul: NSU-Komplex hat Polizei verändert
Manchmal dauert es Jahre, bis ein Tötungsdelikt offiziell als politisch motiviertes Verbrechen gilt. Die Mordserie der Neonazi-Terrorgruppe NSU ist wohl das extremste Beispiel. Jahrelang ermittelte die Polizei erfolglos (und oft im Umfeld der Opferfamilien) - bis sich der NSU 2011 selbst enttarnte.
Reul erwähnte auch die Ermittlungen nach dem Nagelbomben-Anschlag 2004 in der Kölner Keupstraße. Da seien Fehler gemacht worden. Der Anschlag sei zunächst als "Milieutat" eingestuft worden. Der NSU-Komplex habe viel verändert bei der Polizei, so Reul, darunter auch, sensibler gegenüber Opfer aufzutreten.
Unsere Quellen:
- Minister Reul und LKA bei PK und in Mitteilungen
- Nachrichtenagentur dpa