Jörg Schönenborn zum Brandanschlag in Solingen Lokalzeit2go - Bergisches Land 19.05.2023 04:06 Min. Verfügbar bis 19.05.2025 WDR Wuppertal

Jörg Schönenborn zum Brandanschlag in Solingen

Stand: 19.05.2023, 16:24 Uhr

Vor 30 Jahren war Jörg Schönenborn in seiner Heimatstadt Solingen als Reporter unterwegs. Er war einer der ersten Journalisten am Ort des Anschlags. Rechtsextreme Jugendliche hatten am Haus der Familie Genç ein Feuer gelegt, fünf Menschen starben.

Im Lokalzeit-Interview erinnert sich Jörg Schönenborn an seinen Reporter-Einsatz vor 30 Jahren und beschreibt, wie die Tat bis heute nachwirkt.

Lokalzeit: Waren Sie sich sofort der Dimension der Tat bewusst?

Jörg Schönenborn: "Ja, leider. Ich weiß noch, als der Anruf von einem Wuppertaler Radiokollegen kam. Damals standen schon viele Städte, wie Mölln, für diese Gewalt. Und was mir durch den Kopf ging, war das die Stadt, in der ich groß geworden bin, da auch für lange Zeit für stehen würde."

Lokalzeit: Sie waren einer der ersten Journalisten am Tatort. Begleitet Sie das bis heute?

Jörg Schönenborn: "Ja, ich habe immer noch die Bilder vor Augen vom Sonntag, dem Tag nach dem Anschlag, als Mevlüde Genç dann zum Haus geführt wurde und ihre unerträglichen Schreie aus Trauer und aus Erschrecken. Das ist sowas, das hat sich tief eingebrannt. Wir durften dann später in die Ruine rein. Ich habe Bilder von Spielzeug vor Augen. Vor allem ist mir der Geruch im Gedächtnis geblieben, der tagelang dort in der Nase in den Kleidern war."

Lokalzeit: Wie schwer ist es Ihnen gefallen, von dort zu berichten?

Jörg Schönenborn: "Es ist mir sehr schwer gefallen. Aber das nicht, weil es meine Heimatstadt war, sondern weil es so unvorstellbar war, das zu sehen, so nah dran zu sein. Heute sind solche Tatorte abgesperrt, aber wir konnten dahin. Wir konnten mit allen sprechen. Wir konnten alles sehen."

Heute sind solche Tatorte abgesperrt, aber wir konnten dahin. Wir konnten alles sehen. Jörg Schönenborn, WDR Programmdirektor

"Am Samstagabend kamen dann Menschen und demonstrierten, warfen Steine. Das war auch so unglaublich, dass diese Bühne genutzt wurde für politische Interessen. Das war ehrlich gesagt unerträglich. Und das hat Kraft gekostet, das weiß ich noch."

Lokalzeit: Die Tat wirkt auch Jahrzehnte später noch nach. Wie sind Sie dann in den Jahren damit umgegangen?

Jörg Schönenborn: "Ich glaube, es ist gut, sich mit Abstand noch einmal klarzumachen, was damals passiert ist. Einwanderer, Migranten, fremde Menschen beschäftigen uns bis heute. Aber was wir uns klarmachen müssen ist, dass das keine Fremden waren. Die Familie wohnte seit 20 Jahren in Solingen. Die hatte das Haus gekauft, um dort zu bleiben.

Ich werde nie vergessen, was Mevlüde Genç in einem Interview im Jahr danach schilderte: Wenn sie aus der Türkei zurückgeflogen kommt und im Anflug auf Düsseldorf auf das Bergische schaut, bekommt sie Heimatgefühle. Das hat mich immer wieder beschäftigt."

Mevlüde Genç ist letztes Jahr gestorben. Sie war eine Stimme der Überlebenden und setzte sich für Verständigung und Versöhnung ein. Welche Bedeutung messen Sie dem Erinnern bei?

Jörg Schönenborn: "Es toll, dass Mevlüde Genç über viele Jahre so standhaft, so tapfer und auch stolz die Erinnerungen getragen hat. Wir müssen uns klarmachen, auch in diesem Jahr sind Hunderttausende Menschen zu uns gekommen. Genau wie damals, als der Asylkompromiss die Menschen aufgewühlt hat. Insofern sollte der Blick immer wieder sein: wer sind die Aussätzigen heute? Wer sind die Menschen die wir durch unser Verhalten und unsere Missachtungausgrenzen?"

Mit welchem Blick schauen Sie dann nach vorne auch gerade auf ihre Heimatstadt auf Solingen?

Jörg Schönenborn: "Ich bin optimistisch, weil wir gelernt haben, dass Menschen, die zu uns kommen, Partner sind und uns bereichern. Wir brauchen sie und ich glaube, dass wir über die letzten anderthalb Generationen sehr viel gelernt haben."

Zum 30. Jahrestag des Brandanschlags will Solingen erinnern und mahnen. Der WDR wird die Gedenkfeier am 29. Mai 2023 im Livestream übertragen. Erwartet werden unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und hochrangige Politiker aus der Türkei.

Das Interview führte Kerstin von der Linden für die WDR Lokalzeit Bergisches Land.