Buchcover: "Nur nachts ist es hell" von Judith W. Taschler

"Nur nachts ist es hell" von Judith W. Taschler

Stand: 29.10.2024, 07:00 Uhr

Zwei Weltkriege erschütterten ihr Leben, im Ersten arbeitete sie als Lazarettschwester, im Zweiten als Ärztin. In "Nur nachts ist es hell" von Judith W. Taschler erzählt die jüngste der Brugger-Kinder ihre Familiengeschichte. Eine Rezension von Dorothea Breit.

Judith W. Taschler: Nur nachts ist es hell
Zsolnay, 2024.
320 Seiten, 24 Euro.

"Nur nachts ist es hell" von Judith W. Taschler

Lesestoff – neue Bücher 29.10.2024 05:40 Min. Verfügbar bis 29.10.2025 WDR Online Von Dorothea Breit


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Nachdem die Freundin abgesagt hat, weiß Elisabeth nicht, was sie mit dem Abend anstellen soll. Sie trinkt ein Glas Sekt, und dann zieht sie ein leeres Heft aus dem Schreibtisch.

"'Ich habe beschlossen, über mein Leben zu schreiben. Macht damit, was Ihr wollt, liebe Nachkommenschaft!', schrieb ich zügig auf die erste Seite. Danach folgten ein paar Sätze über den 'Krieg, der in uns steckt', dass ich ein Mädchen gewesen war, als der erste große Krieg ausbrach, und eine alte Frau, als der zweite endete, und dass ich in der Zwischenzeit als Ärztin an anderen Fronten zu kämpfen hatte. Weiter kam ich nicht. Weil ich nämlich schneller trank, als ich schrieb."

Im Jahr 1972 schreibt die pensionierte Ärztin Elisabeth die Familiengeschichte für ihre Großnichte auf; sprachlich schlicht an Fakten orientiert. Die Zwillingsbrüder Eugen und Carl sind fünf, Gustav zwölf Jahre älter als sie, das Nesthäkchen der Kaufmannsfamilie Brugger im Mühlenviertel. Bildung wird geschätzt, weshalb die Mutter mit den Kindern nach Wien zieht. Im ersten Lyceum für Mädchen macht Elisabeth Matura. Kurz darauf beginnt der Erste Weltkrieg, sie arbeitet als Lazarettschwester. Gustav fällt in Galizien.

"Nach dem Kriegsende war ich eine andere. Ich wollte Medizin studieren, und obwohl meine Familie aufgeschlossen war, war sie dagegen. (...) Es sollte mir genug sein, Krankenschwester zu sein und später zu heiraten. (...) Was ich auch rasch tat: Ich heiratete einen Kommilitonen meines gefallenen Bruders. Georg war versehrt aus dem Krieg heimgekehrt, ihm fehlte der linke Arm. Er war der Einzige, der meinen Wunsch, Medizin zu studieren, unterstützte. Nein, falsch, auch mein Bruder Eugen hielt in dieser Sache zu mir."

Über Carl reden wir morgen, fügt sie noch hinzu; so lautet der Titel des vorherigen Romans von Judith W. Taschler über die Familie Brugger im Mühlenviertel. "Nur nachts ist es hell" erscheint als Fortsetzung und ist ebenfalls autobiografisch inspiriert.

Elisabeth erzählt sprunghaft, was ihr eben einfällt, korrigiert sie im nächsten Satz, erinnernd und Details ergänzend: Wie sie, die verheiratete Mutter, in der frauenfeindlichen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Medizinstudium durchzieht, danach in der gemeinsamen Praxis mit Georg arbeitet, für Verhütung wirbt, Armut und Verzweiflung begegnet, Schwangeren, die ihre Hilfe erpressen. Während Hitler in Wien einmarschiert.

"Es kam mir vor, als wäre ich zurückkatapultiert worden in meine Jugend, als habe die Zeit aus Versehen den Rückwärtsgang eingelegt und wäre im Sommer 1914 abrupt zum Stehen gekommen. Wieder große Töne der Machthaber im Rundfunk und unerträgliche Euphorie, die Leute wurden offenbar nicht klüger. Unser ältester Sohn wurde eingezogen und an die Ostfront abkommandiert. In der Schule hatte er so gerne von Friedrich I., mit dem Beinamen Barbarossa, gehört, jetzt verschluckte ihn die Operation Barbarossa."

Die Familienbande sind verzweigt, die vertauschten Identitäten der Zwillingsbrüder kunstvoll ersonnen: Carl, der sich für tot erklären lässt, um Schikanen eines Vorgesetzten zu entkommen, Eugen, der zweimal nach Amerika auswandert, zurückkehrt und Carl mit Luzie hintergeht. Eine liebenswerte und – obgleich die Ich-Erzählerin Pathos hasst – melodramatische Geschichte. Aufgesetzt muten Topoi wie die Verführung des Kinds durch einen Cousin an, ebenso das Verstecken einer jüdischen Familie, das noch eingefügt wird. Auch die Dramaturgie des Hinhaltens und Wiederholens in Variationen, das Vor- und Zurückspringen in Details nutzt sich ab.

"Du willst wissen, wie es lief an dem Abend? (...) Am Grammophon lief eine Schallplatte mit deutschen Operettenliedern (...), auf einem Tisch gab es ein kaltes Buffet, alles war liebevoll dekoriert. Es war offensichtlich, dass sich die Mutter, überglücklich über die Heimkehr des totgeglaubten Sohnes, ins Zeug gelegt hatte. (...) Ich schnappte mir ein Glas Sekt und betrachtete die Leute (...). Es war – außer Georg – niemand versehrt (...)."

Am Ende erinnert Elisabeth sich noch an eine heimliche Affäre in Italien, nach der die Liebe mit Georg wieder aufflammte. Dennoch wird sie früh Witwe in dieser rührenden Familiensaga, die die Autorin geschickt mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen in Europa sowie die Geschichte der Medizin vom Industriezeitalter bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verwebt.