"Jeder hetzt mich wie ein Tier, jeder lässt nur Abscheu sehen, niemand spricht als Mensch zu mir, niemand will mein Leid verstehen." So klagt der Mann mit der Maske in Andrew Lloyd Webbers Musical "Das Phantom der Oper". Im Gesicht entstellt, hat der Titelheld das schöne Chormädchen Christine in sein unterirdisches Domizil in der Pariser Oper entführt und ihr mittels Zauberkräften eine wundervolle Stimme verliehen. Sie soll ihn dafür lieben – aber Christines Jugendfreund Raoul will sie befreien.
Aus dem gleichnamigen Zeitungsroman des französischen Journalisten und Schriftstellers Gaston Leroux, in dem es nicht zuletzt um soziale Vorurteile gegenüber Menschen am Rande der Gesellschaft geht, macht Lloyd Webber 1986 ein romantisch-opernhaftes Pop-Märchen. Am 29. Juni 1990 hat "Das Phantom der Oper" im eigens erbauten Theater "Neue Flora" in Hamburg Deutschlandpremiere.
Teil des Gigantischen
Mit "Cats" (1981) und "Starlight-Express" (1984) hat die Musical-Firma "Stella" schon zwei Erfolge von Lloyd Webber auf deutsche Bühnen gebracht – jetzt importiert sie mit dem "Phantom" seinen wohl größten Hit. Dabei wird geklotzt und nicht gekleckert. Alles ist pompös: die Inszenierung, die Musik, die Deko. Wenn das Phantom den gigantischen Kronleuchter herunterkrachen lässt, müssen die Hornisten im ersten Rang des Orchestergrabens ihre Noten festhalten, damit sie nicht herunterfliegen.
Neben der Nachwuchssängerin Anna Maria Kaufmann haben die Macher des "Phantoms" den populären Tenor Peter Hofmann verpflichten können, der gerade eine zweite Karriere als Edelrocker gestartet hat und ein Jahr vor seinem Musicalstart bei den Bayreuther Festspielen mit seinem Siegmund für Furore sorgt. Dirigiert wird das Musical von Patricia Martin, die heute Dozentin für Musical an der Essener Folkwang-Universität der Künste ist. "Wir hatten eine Art Bewusstsein davon, dass wir Teil von etwas Besonderem, Gigantischem waren", wird sie sich später erinnern. "Das war tatsächlich so."
Die Liebe stirbt nie
Nicht allen gefällt das "Phantom". Für die autonome Szene Hamburgs ist das Musical Ausdruck eines kommerziellen Ausverkaufs ihrer Stadt. Während drinnen die Show startet, liefern sich draußen rund 1.000 Demonstranten mit 3.500 Polizisten Straßenschlachten, bei denen es Schwerverletzte gibt. Den Erfolg des "Phantoms der Oper" vermögen die Protestierenden nicht aufzuhalten – ebenso wenig wie die Musicals, die in seinem Fahrwasser vor allem auch nach Hamburg schwappen. Die Stadt wird mit inzwischen zehn Spielorten zum Musical-Mekka.
"Das Phantom der Oper" überlebt fast alle Neuankömmlinge. Elf Jahre läuft allein die erste Hamburger Inszenierung insgesamt. Die Zweitauflage wird im Herbst 2015 nach Oberhausen umgesiedelt – weil Hamburg Platz braucht für Andrew Lloyd Webbers Fortsetzung "Phantom: Love Never Dies".
Stand: 29.06.2015
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.