Große Erwartungen werden an Margot Käßmann gestellt, als sie am 28. Oktober 2009 in Ulm zur ersten weiblichen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) gewählt wird. 132 von 142 Wahlberechtigten haben sich für die Landesbischöfin aus Hannover ausgesprochen. Die EKD repräsentiert über 24 Millionen evangelische Christen. Käßmanns Wahl gilt als Signal für eine Kirche, die sich einmischt und sich auch den Distanzierten zuwendet. "Diese Wahl am 28. und 29. Oktober hat mich doch sehr berührt. Ich bin nach Ulm gefahren mit dem Versuch, ganz unbefangen zu sein: Ob ich gewählt werde oder nicht, ist nicht das Entscheidende", sagt sie später in einem Interview. Ihre Amtszeit dauert dann nur vier Monate – und endet spektakulär.
Offene und entschiedene Worte
Zunächst ist die Öffentlichkeit ihr gegenüber wohlwollend. "Sie ist menschlich vielen nahe gekommen, hat ihr Privatleben etwas offen gelegt, über eine schwere Erkrankung und ihre Scheidung gesprochen", sagt der evangelische Theologe und Religionskritiker Heinz-Werner Kubitza. Margot Käßmann spricht viele Themen anders an, als es bisher von Kirchenoberen bekannt war. Mit großem Engagement setzt sie sich für Frauen ein, die Ökumene und die Zukunft der Kirche. In vielen Predigten und Vorträgen gibt sie überzeugende Antworten auf Fragen der Gegenwart, wie Frieden und Gewalt, Gentechnologie, Sterbehilfe, Frauen in Führungspositionen und Kindererziehung. So kritisiert sie zum Beispiel das von der CSU geforderte Betreuungsgeld.
Ihre wohl berühmteste Aussage stammt aus der Neujahrspredigt in der Dresdener Frauenkirche am 1. Januar 2010. "Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien haben uns lange darüber hinweg getäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und auch Zivilisten töten", erklärt sie. Während sie in Kirchenkreisen mit ihren Aussagen Rückhalt hat, nennen Kritiker sie populistisch und naiv. Der Bundeswehrgeneral a. D. Klaus Naumann sagt, es sei ein "hochmütiges, in jeder Hinsicht falsches Pauschalurteil".
Werte der Aufklärung oder des Christentums?
Der religionskritische Theologe Heinz-Werner Kubitza sagt über Käßmanns direkten Stil: "Sie vertritt eine ganze Reihe von positiven modernen Werten, wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gleichheit. Und sie denkt, das seien christliche Werte. Im Grunde sind es aber Werte des Humanismus und der Aufklärung. Sie betreibt einen kleinen Etikettenschwindel, der nur wenig auffällt."
Am 20. Februar 2010 gerät Margot Käßmann wieder in die Schlagzeilen, dieses Mal mit einen persönlichen Fehler. Sie saß mit 1,54 Promille am Steuer und hatte eine rote Ampel überfahren. "Einer meiner Ratgeber hat mir gestern ein Wort von Jesus Sirach mit auf den Weg gegeben: Bleibe bei dem, was dein Herz dir rät. Und mein Herz sagt mir ganz klar: Ich kann nicht mit der notwendigen Autorität im Amt bleiben", erklärt sie öffentlich. Am 24. Februar 2010 tritt sie mit sofortiger Wirkung von allen kirchlichen Ämtern zurück – nach nur vier Monaten an der Spitze der Evangelischen Kirche Deutschlands.
Zeitung: "Kirche verliert faszinierendsten Akteur"
Ihre Entscheidung bringt ihr fast einhellig Respekt ein, unter Politikern, Theologen und Bürgern gleichermaßen. "Mit ihrem Rücktritt verliert die Kirche ihren faszinierendsten religiösen Akteur", schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Februar 2010. Zugleich kritisiert die Zeitung aber ihren "erratischen Führungsstil, zahlreiche unabgestimmte Äußerungen und einen eklatanten Mangel an Teamfähigkeit".
Inzwischen ist Käßmann so bekannt, dass sie keine Ämter mehr braucht, um Gehör zu finden. Nach kurzer Pause ist sie wieder da – in Talk-Shows, in Zeitungen und Zeitschriften, und auf der Bücherbestsellerliste. Inzwischen lebt Margot Käßmann in Berlin und besitzt ein Haus auf der Insel Usedom. Und ein Amt hat sie auch wieder: Sie ist Botschafterin für das Reformationsjubiläum im Jahr 2017.
Stand: 28.10.2014
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