"Es war genau fünf Minuten nach zwölf Uhr heute Mittag, als sich die automatisch betriebene, stählerne Schleuse des bisher einzigen Atombunkers der Bundesrepublik hier in Dortmund schloss", spricht WDR-Reporter Hasso Wolf am 8. Juni 1964 in sein Mikrofon. Er ist als Berichterstatter beim ersten "Schutzbunker-Belegungsversuch" dabei, den das Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz durchführt. "144 Testpersonen, Frauen und Männer im Alter von 16 bis 67 Jahren, werden die nächsten sechs Tage und Nächte - genau 144 Stunden - freiwillig hier verbringen", so Reporter Wolf. "Dazu 62 Helfer, Ärzte, Psychologen, Techniker und Journalisten."
Der sogenannte Sonnenbunker an der Zwickauer Straße stammt aus dem Zweiten Weltkrieg und wurde für 3,5 Millionen Mark "atomkriegssicher" umgebaut. Im Ernstfall soll er 1.500 Menschen aufnehmen und ihnen Schutz vor einer Atombombe mit der vierfachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe bieten - wenn diese nicht in einer Entfernung von weniger als 400 Metern explodiert, so die offiziellen Angaben.
Sechs Stunden Schlaf
Das Dortmunder Experiment soll darüber Aufschluss geben, wie weitere 1.500 Hochbunker im Bundesgebiet umzubauen sind. "Wir erwarten uns Aussagen über das psychologische, soziale und physiologische Verhalten der Teilnehmer unter den beengten Bedingungen dieser Unterbringung und vor allem auch unter den Gesichtspunkten der völligen Abschließung von der Außenwelt", sagt Professor Josef Schunk, wissenschaftlicher Leiter des Bunkerversuchs. Dazu gehört eine tägliche Kontrolle von Körpergewicht und Darm- und Blasentätigkeit.
Die Freiwilligen werden pro Tag mit 2.000 Kalorien Büchsennahrung und zwei Tassen Tee verpflegt. Alkohol ist verboten, Rauchen dagegen erlaubt. "Jeweils ein Drittel der Belegschaft kann schlafen", so Leiter Schunk. "Dabei ist ein sechsstündiger Wechsel im Liegeraum mit gleitender Verschiebung der Schlafzeiten vorgesehen."
375 Mark Honorar pro Person
Das Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz honoriert die Testpersonen mit 50 Mark pro Tag. Wer die sechs Tage durchhält, bekommt noch einmal 75 Mark zusätzlich. Nur zwei geben vorzeitig auf. Ein Mädchen erleidet einen leichten Schock. Einige Insassen berichten später von Reibereien im Bunker: "Die älteren Männer, meist alles Luftschutzhelfer, bestanden darauf, dass sie mehr oder weniger das Kommando übernehmen wollten, und die jungen Mädchen waren verständlicherweise etwas lockerer in der Auffassung", sagt Lokaljournalist Thorsten Scharnhorst.
Bereits zwei Stunden vor Ende des Versuchs versammeln sich vor dem "Sonnenbunker" in Dortmund Atomwaffengegner mit Transparenten und Flugblättern. Es bleibt bei diesem einzigen Modellversuch, denn Mitte der 1960er Jahre beginnt in der Bundesrepublik eine heftige öffentliche Debatte über Sinn und Unsinn baulicher Schutzmaßnahmen für den Fall eines Atomkriegs.
Stand: 08.06.2014
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