Stichtag

11. April 1954 – Langweiligster Tag des 20. Jahrhunderts

"Es ist spannend zu sehen, wie wichtig der Zeitvertreib für unser Leben geworden ist." So sieht es Lars Svendsen. Der norwegische Philosoph und Professor an der Universität Bergen hat ein überaus fesselndes Buch über die Langeweile geschrieben – und festgestellt, dass die Hauptbeschäftigung des Menschen von heute darin besteht, Zeit zu vertreiben. "Wenn man seine Zeit auf diese Weise ausfüllt, mit dem iPad, dem iPhone und allen möglichen Gadgets zur Unterhaltung, dann hält man die Langeweile immer eine Armlänge auf Abstand."

Am 11. April 1954 haben die Menschen aber noch nicht die Möglichkeit, sich die Langeweile durch die Medien zu vertreiben. Das liegt nicht nur daran, dass es das Internet noch gar nicht gibt. Das liegt auch daran, dass der 11. April 1954 der langweiligste Tag des 20. Jahrhunderts ist.

Nichts, nada, niente, nothing!

Dem 11. April 1954 wird es natürlich auch nicht richtig leicht gemacht. Denn das 20. Jahrhundert ist nicht gerade das, was man langweilig nennen kann. Zwei Weltkriege muss es überstehen, die Kunst befreit sich in der Abstraktion von ihren Realismusfesseln, Regime und Ideologien kommen und gehen, der Mensch erobert den Mond und bereitet mit dem Internet die größte Revolution seit dem Buchdruck vor. Berühmte Menschen werden geboren und sterben - Zeitungsredakteure und Reporter haben alle Hände voll zu tun.

Und am 11. April 1954? Der Tod eines fast unbekannten Fußballspielers, die Geburt eines noch weniger bekannten Professors für Ingenieurwissenschaften in der Türkei, unspektakuläre Wahlen in Belgien (die Sozialisten gewinnen). Sonst nichts, nada, niente, nothing. Neuigkeitentechnisch könnte der Palmsonntag auch ein Totensonntag sein.

"Geradezu fantastisch ereignislos"

Diese Erkenntnis verdankt die Menschheit William Tunstall-Pedoe. 2010 programmiert er die semantische Suchmaschine "True Knowledge", die heute "Evi" heißt und Antworten auf grammatikalisch richtig gestellte Fragen findet. Hinter der Technologie steckt eine Datenbank. Und die ist mit Daten, Zahlen, Menschen, Orten und Ereignissen gefüttert. "Mir wurde klar, dass ich diese Datenbank nutzen konnte, um das 20. Jahrhunderts zu durchforsten", sagt Tunstall-Pedoe. "Und da stellte sich ein Tag als geradezu fantastisch ereignislos dar."

Recherchen von Journalisten bestätigen das Datenbankergebnis. Und weil selbst der langweiligste Tag des 20. Jahrhunderts einen Nachrichtenwert hat, wird der 11. April 1954 für die Medien ein spannendes Ereignis. Auch der türkische Ingenieurwissenschaftler Abdullah Attalar von der Bilkent-Universität in Ankara, der sonst wohl nie ins öffentliche Bewusstsein geraten wäre, wird berühmt. Auf einer Pressekonferenz wird er allen Ernstes gefragt, ob seiner Mutter bewusst sei, ihn am langweiligsten Tag des 20. Jahrhunderts geboren zu haben.

Kurzentschlossen ruft Attalar seine Mutter vor laufenden Kameras an, um sie zu fragen. Die Angerufene habe nur gelacht, sagt der Professor später. "Für meine Mutter – ich war ihr erstes Kind – war es überhaupt kein langweiliger Tag."

Stand: 11.04.2014

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