Weihnachtsansprachen – und die Floskeln, die damit einhergehen – gehören seit vielen Jahren zum Fest. Verändert haben sich die Reden in all den Jahrzehnten kaum. Zunächst blicken Kanzler oder Bundespräsident freundlich auf die letzten zwölf Monate zurück: "Hinter uns liegt ein bewegtes, arbeitsreiches Jahr" (Ludwig Erhard, 1963) oder "Es war ein gutes Jahr für Deutschland" (Horst Köhler, 2006). Dann werden einige Schwierigkeiten erwähnt: "Menschen machen sich Sorgen" (Christian Wulff, 2011) oder "Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander" (Joachim Gauck, 2012). Am Ende folgt der obligatorische Schluss-Appell. So sagt Johannes Rau 1999, man müsse "zuversichtlich nach vorn blicken, wohl wissend, dass noch viele Aufgaben gelöst werden müssen."
Erste Rede im jungen Rundfunk
Die erste Weihnachtsansprache geht am 25. Dezember 1923, 20 Uhr, über den Äther. Der Rundfunk war gerade in Betrieb gegangen: Im Oktober 1923 wurde die erste Unterhaltungssendung aus dem Berliner Vox-Haus gesendet. Der damalige Reichskanzler Wilhelm Marx dankt dem Ausland in seiner live vorgetragenen Rede für die Unterstützung der Notleidenden in Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg liegt die Wirtschaft am Boden, der Staat ist pleite und die Inflation explodiert. "Diese Hilfsbereitschaft menschlich Denkender in allen Ländern der Welt ist wie ein Lichtzeichen, das uns Hoffnung leuchtet in der Finsternis", sagt er.
Der Kanzler spricht an Weihnachten, der Präsident zum neuen Jahr
Ab 1949 wird die Arbeit geteilt. Der Kanzler spricht an Weihnachten, der Präsident zum neuen Jahr - bis Willy Brandt und Gustav Heinemann 1970 die Sendeplätze tauschen. Von nun an ist der Präsident für die Weihnachtsgrüße, der Kanzler jedoch für den politischen Ausblick auf das neue Jahr zuständig. Die Weihnachts- und Neujahrsansprachen sollen die Verbundenheit beschwören und die Nation zusammenschweißen. "Jeder muss spüren: Ich gehöre dazu. Ich werde gebraucht", sagt Christian Wulff 2010. Und Ludwig Erhard erklärt über 40 Jahre zuvor: "Ich erkenne unser ganzes deutsches Volk als eine Familie, die durch die Kraft des Herzens zusammen gehalten ist."
Unvergessen bleibt auch die Neujahrsansprache von Helmut Kohl zum Jahreswechsel 1986/87. Wegen einer Verwechslung der Bänder strahlte der NDR die Rede vom Vorjahr aus.
"Politische Floskeln sind ein Schutzwall"
Auf überraschende Gedanken und mutige Statements warten die Deutschen jedoch seit Langem vergeblich. Es scheint, als würden die Reden jedes Jahr aus den immergleichen Textbausteinen bestehen. "Politische Floskeln sind natürlich ein Schutzwall gegenüber der Medienwelt", erklärt Thomas Maess, Redenschreiber für die frühere schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis. "Ein unbedachtes Wort würde sofort millionenfach vervielfältigt und kann nicht mehr eingefangen werden. Davor hat der Politiker natürlich Angst", so Maess.
Auch die Redenschreiber haben es nicht leicht. Manche Sätze lassen sich nur alle vier Jahre wiederverwenden, zum Beispiel dieser hier von Horst Köhler aus dem Jahr 2009: "Im kommenden Jahr wollen wir Fußball-Weltmeister werden!" Für das Jahr 2014 passt er wieder.
Stand: 25.12.2013
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