Der 25-jährige Vorarbeiter Phineas Gage ist ein Routinier in Sprengungen. Die Bohrlöcher entlang der geplanten Eisenbahntrasse im US-Bundesstaat Vermont füllt er mit Schießpulver und verschließt das ganze mit Sand, den er mit Hilfe eines sieben Kilo schweren und drei Zentimeter dicken Eisenstocks feststampft. Eigentlich kann nichts schief gehen.
Am 13. September 1848 aber vergisst Gage den Sand und schlägt mit seinem "Ladestock" direkt auf das Pulver. Sie schrappt am Stein vorbei; Funken sprühen, die Explosion treibt die Stange komplett durch Gages Kopf. Die über einen Meter lange Stange tritt in der Höhe des Auges durch den Wangenknochen ein und schießt, versetzt mit Blut und Gehirnmasse, am Hinterkopf wieder heraus.
Gage müsste tot sein, aber er ist nur kurz bewusstlos. Dann steht er eigenständig auf und fährt mit einem Ochsenkarren in seine Unterkunft. "Doktor, hier gibt es ordentlich was zu tun für sie", begrüßt er den herbeigeeilten Arzt John D. Harlow.
Blanker Jähzorn
Harlow leistet ausgezeichnete Arbeit. Trotz der offenen Verletzung in Schädel und Gehirn überlebt Gage den grausigen Unfall. Äußerlich fehlt ihm fortan nur ein Auge, aber sein Verhalten verändert sich schlagartig. Zwar spricht er weiterhin normal und erinnert sich an alles, was mit ihm passiert ist. Auch sein Intellekt ist der alte. Aber als Vorarbeiter ist er plötzlich unbrauchbar. Der einstmals zuverlässige Mann kann sein Leben nicht mehr organisieren. Und seine höfliche Freundlichkeit ist blankem Jähzorn und Respektlosigkeit gewichen.
Durch seine merkwürdige Persönlichkeitsveränderung wird Gage zu einem Anschauungsobjekt der relativ neuen Hirnforschung. Sein Retter John D. Harlow macht 1868 die Verletzung des Frontalhirns dafür verantwortlich: "Die Eisenstange zerstörte die Regionen von Mitgefühl und Autoritätsgefühl, nun beherrschten animalische Leidenschaften seinen Charakter", urteilt der Arzt – eine gewagte These in einer Gesellschaft, nach deren Glauben jeder Mensch von Gott auf die im einzigartige Art und Weise geschaffen worden ist.
Dass ausgerechtet das Sozialverhalten durch einen Unfall in Mitleidenschaft gezogen werden kann, verstört die Zeitgenossen. Heute ist die Vorstellung, dass bestimmte Regionen im Gehirn für bestimmte Funktionen zuständig sind, allgemein akzeptiert.
Struktur statt Emotion
Nach dem Unfall zieht Gage unstet umher und wechselt ständig seinen Job – für spätere Neurologen der Beweis dafür, dass soziale Entscheidungen nicht nur mit Hilfe des Verstandes, sondern auch mit Hilfe jener Hirnregionen getroffen werden, die für die Emotionen zuständig sind.
Bei Verlust emotionaler Fähigkeiten hilft laut der modernen Neurologie nur ein durchstrukturierter Alltag. Gage findet seine Ruhe erst, als er 1852 im chilenischen Valparaíso Postkutsche fährt und ihm Entscheidungen von einem klar vorgegebenen Muster abgenommen werden. Gage stirbt 1860 in San Francisco, vermutlich an den Folgen seines Unfalls. Die verhängnisvolle Eisenstange begleitet ihn ins Grab.
Stand: 13.09.2013
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