Anfang April 1928 treffen sich der Schauspieler Ernst Josef Aufricht und der Schriftsteller Bert Brecht im Café Schlichter in Berlin. Aufricht hat erst kürzlich ein Vermögen geerbt und will Theaterdirektor werden. Für sein soeben gemietetes Theater am Schiffbauerdamm sucht er noch ein geeignetes Premierenstück. Brecht erzählt ihm von einem unvollendeten Werk, wie sich Aufricht später erinnert: "Davon können Sie morgen sechs von sieben Bildern lesen. Es ist eine Bearbeitung von John Gay's 'Beggar's Opera'. Ich habe ihr den Titel 'Gesindel' gegeben." Die Oper sei 1728 uraufgeführt worden.
Aufricht holt sich am nächsten Morgen das Manuskript bei Brecht ab - und ist begeistert. Ihm gefällt die Geschichte des Londoner "Bettlerkönigs" Jonathan Peachum, der überraschend einen ungeliebten Schwiegersohn erhält: den Gangster Jeff Macheath, Mackie Messer genannt. Dieser entführt Peachums Tochter Polly und heiratet sie heimlich. Brecht kritisiert in seinem Stück mit Spott die bürgerlich-kapitalistische Welt der Weimarer Republik - obwohl er die Bettler, Räuber und Huren im Victorianischen England auftreten lässt. Nach seinem Konzept des "epischen Theaters" soll das Geschehen auf der Bühne die Zuschauer nicht in eine illusionäre Welt hineinziehen, sondern sie vielmehr kritisch über die gesellschaftlichen Zustände nachdenken lassen.
"Saustück! So was sing ich nicht!"
Noch ist die "Dreigroschenoper", wie das Werk später heißt, allerdings nicht vollendet. Nicht nur am Text wird noch gefeilt, sondern auch die Musik muss noch komponiert werden. Brecht besteht darauf, dass diese Aufgabe Kurt Weill übernimmt. Doch die Arbeiten dauern länger als geplant: "Was wir machen wollten, war die Urform der Oper", sagt Weill später. "Es galt eine Musik zu schreiben, die von musikalischen Laien gesungen werden kann." Schließlich ziehen sich er und Brecht nach Südfrankreich zurück, um noch rechtzeitig fertig zu werden.
Am 1. August 1928 beginnen die Proben - und weitere Probleme. Die Kabarettistin Rosa Valetti, für die Rolle der Frau Peachum engagiert, soll ihren Widerstand gegen Text bis zum Schluss nicht aufgegeben haben: "Saustück! So was sing ich nicht!" Bei Helene Weigel, Brechts Frau, bahnt sich eine Blinddarmentzündung an, ihre Rolle musste kurfristig neu besetzt werden. Der Operettenstar Harald Paulsen möchte bevorzugt behandelt werden, wird von Brecht aber zurechtgewiesen. Und Weill, sonst die Ruhe selbst, vermisst auf dem Theaterzettel den Namen seiner Frau Lotte Lenya als Seeräuber-Jenny und schimpft.
Musik sorgt für Triumph
Doch dann ist es so weit: Am 31. August 1928 wird im Berliner Theater am Schiffbauerdamm die "Dreigroschenoper" uraufgeführt. Die Musik Kurt Weills enthält Elemente aus Jazz und Unterhaltungsmusik sowie Kirchen- und Opernmelodien. Vor allem die eingestreuten Balladen wie das "Lied der Seeräuber-Jenny " oder die "Moritat von Mackie Messer" sorgen für den sofortigen Triumph des Stücks: Es wird zum größten Theatererfolg der 1920er Jahre und erst 1933 vom Spielplan genommen - auf Druck des NS-Propagandaministeriums von Joseph Goebbels.
Stand: 31.08.2013
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