"Schiesser sitzt wie eine zweite Haut", heißt es in einem alten Werbespot. Und genau das will Jacques Schiesser herstellen, als er 1875 neun Rundwebstühle im Tanzsaal eines Gasthauses in Radolfzell aufstellt: strapazierfähige Unterwäsche. In der Schweiz hatte der 27-jährige Jungunternehmer bereits eine Buntweberei betrieben und wollte seine erste Trikotagenfabrik im ostpreußischen Königsberg errichten. Laut Firmenchronik kommt es anders: Eine Küchenfrau namens Adelheid aus Radolfzell empfiehlt ihm ihre Heimatstadt. Anders als in seiner Schweizer Heimat findet Jacques Schiesser am Bodensee preiswerte Arbeitskräfte – und bleibt.
Im Tanzsaal wird jedoch nur kurze Zeit elastisches Gewebe hergestellt. Bereits im Januar 1876 bezieht Schiesser seine eigene "Fabrik für Trikotweberei und Färberei". Zehn Jahre nach der Gründung beschäftigt er schon 280 Mitarbeiter, um die Jahrhundertwende rund 1.000. "Die Grundidee war es, sogenannte Erkältungswäsche zu machen. Das heißt Wäsche, die eine Verkühlung verhindern sollte und die man auch am Körper tragen konnte", erinnert sich Helmut Haller, langjähriger Vorstandschef der Schiesser AG.
Soldaten schätzen Schiessers Abhärtungswäsche
Gesundheitsthemen sind beim bürgerlichen Publikum beliebt, seit Bakteriologen wie Rudolf Virchow und Louis Pasteur Mikroben als Krankheitserreger nachgewiesen haben und überall im Land Hygiene-Ausstellungen stattfinden. Streit gibt es unter Experten nur um das ideale Material der Unterwäsche: Wolle oder Baumwolle? Jacques Schiesser entscheidet sich für einen dritten Weg, das rubbelige Ramieleinen, hergestellt aus der Fasern der Ramiepflanze. Besonders Sportler und die kaiserlichen Soldaten schätzen Schiessers sogenannte Abhärtungswäsche. Dafür und für andere patentierte Produkte wie das Flechttrikot, das Damasttrikot und die Längsstreifen-Trikotagen erhält Jacques Schiesser im Jahr 1900 bei der Weltausstellung in Paris den Grand Prix für Innovation. Mit einem Exportanteil von 80 Prozent ist Schiesser zu Beginn des 20. Jahrhunderts der größte Trikotagen-Hersteller im Deutschen Kaiserreich.
Am 18. August 1913 stirbt Jacques Schiesser im Alter von 65 Jahren an Herzversagen. Unter der Leitung seines Neffen Jean wird das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Während der Weltkriege stellt das Unternehmen vor allem Heeresausstattung her. Rohstoffmangel bringt die Produktion fast zum Erliegen.
Schiesser-Unterhosen werden als Liebestöter verspottet
Nach dem Krieg wird die weiße Doppelripp-Unterhose mit Seiteneingriff zum Bestseller. Doch in den 1970er- und 80er-Jahren leidet das Image der Feinrippwäsche. Schiesser-Unterhosen werden als bieder und spießig, gar als Liebestöter verspottet. "Schiesser hat das Schicksal vieler traditioneller Marken ereilt: Sie galt auf einmal als verstaubt und sogar alt", sagt der damalige Vorstandsvorsitzenden Haller. Ihm gelingt es ab Mitte der 1990er-Jahre jedoch, das Image der Traditionsmarke zu verbessern. Vor allem "Schiesser Revival", eine Wäscheserie im Retro-Look nach dem Vorbild von Schiesser-Modellen aus den 1920er-, 1930er- und 1950er-Jahren, ist unerwartet erfolgreich.
Stand: 18.08.2013
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