Als die Stimmung immer ausgelassener wird, klettert Theophilus Washington Smith, Richter am Obersten Gerichtshof des amerikanischen Bundesstaates Illinois, 1836 auf ein hölzernes Fass. Das ist nichts Besonderes, jeder, der etwas zu sagen hat, tut das im Wilden Westen. Nur was Smith sagt, finden seine Zuhörer so absurd, dass sie beginnen, mit Eiswürfeln aus ihren Limonadengläsern nach ihm zu werfen. Er sagt voraus, dass die Bevölkerung Chicagos in 100 Jahren auf 100.000 Einwohner anwachsen wird. Drei Jahre zuvor, am 12. August 1833, hatten die Gründerväter gerade jene 150 Holzfäller, Farmer und Fellhändler zusammen bekommen, die notwendig waren, um eine "town" gründen zu können. Zwei Meter hoch wächst das Gras um Chicago damals. Reiten die ersten Siedler mit ihren Pferden durch die Prärie, können sie gerade über die Halme blicken.
Viel Wasser, wenig Indianer
In der Tat ist Richter Smiths' Prognose falsch - viel zu niedrig. "1833 gab es in Chicago ganze 35 wahlberechtigte Männer. 1840 hatte der Ort schon 4.000 Einwohner", sagt Barry Kritzberg, Zeitungsreporter, Hochschuldozent und Stadtführer in Chicago. 1850 sind es 29.000 Einwohner, 1860 bereits 112.000 und 1890 mehr als eine Million. Im Jahr 1900 ist Chicago die fünftgrößte Stadt der Welt. Historiker wie Kritzberg sagen, die Stadt sei so rasant gewachsen, weil es in der Region mit dem Lake Michigan viel Wasser gegeben habe, aber nur wenig Indianer. "Erst als die Bedrohung durch Indianer aufhörte, ließen sich weiße Siedler massenhaft nieder. 1830 fand der letzte Indianerkrieg diesseits des Mississippi statt, der Black Hawk War", sagt Kritzberg. Die Siedler schlossen zwar Verträge mit den Indianern ab, nahmen ihnen aber dennoch das Land ab. "Die Indianer zogen also weiter nach Westen. Und immer mehr Weiße strömten nach Chicago", so Kritzberg.
Schlachthöfe und Gangsterkeller
Bis heute ist Chicago eine Stadt der legendären Orte. Al-Capone-Rundgänge führen zu den Kellern, in denen sich der Gangsterboss in Zeiten der Prohibition angeblich versteckte. Es gibt die Jazz- und Bluesclubs der 1920er-und 30er-Jahre, die entstanden, als die Schwarzen aus dem Süden nach Chicago zogen, um Arbeit zu finden. In einem Labor der Universität von Chicago begann am 2. Dezember 1942 um 15.25 Uhr das Atomzeitalter: mit der ersten kontrollierten nuklearen Kettenreaktion. Und viele Stadtführer berichten von den "stockyards", den berüchtigten Schlachthöfen von Chicago. Tausende Immigranten aus Irland, Polen, Italien und Deutschland fanden hier unter miserablen Umständen eine erste Arbeit. Erst nach Erscheinen von Upton Sinclairs kritischem Roman "Der Dschungel" verbessern sich die Arbeitsbedingungen.
Die Kuh der Mrs. O'Leary
Eine der Touren durch die 180-jährige Geschichte der heute drittgrößten US-Stadt beginnt in einer nachgebauten Scheune. Hier soll einst die Kuh der Eheleute Patrick und Catherine O'Leary gestanden haben. Der Legende nach soll das Tier eines Abends beim Melken eine Laterne umgestoßen und so das Große Feuer von 1871 verursacht haben. 17.500 Gebäude brannten nieder. Ob die Geschichte stimmt, ist umstritten. Aber die O'Learys waren der perfekte Sündenbock: Als irische Immigranten stand sie in der sozialen Hierarchie ganz unten. Heute kennt jedes Kind in Chicago ihren Namen.
Stand: 12.08.2013
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 12. August 2013 ebenfalls an die Gründung der Stadt Chicago. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.