1992 ist Sigrid Schöne Richterin am Amtsgericht Münster. Da bekommt sie eine merkwürdige Klage auf den Tisch. Eine junge Frau verlangt 1.000 D-Mark Schadensersatz von ihrem Ex-Verlobten, der sie unter Vorspiegelung eines Eheversprechens ins Bett bekommen hatte. Berufen kann sie sich auf den "Kranzgeld-Paragrafen", der noch aus uralten Zeiten in die bundesrepublikanische Rechtssprechung hineingeraten ist.
Dann fällt Schöne ein bahnbrechendes Urteil. Sie weist die Klage mit der Begründung ab, dass der Kranzgeld-Paragraf verfassungswidrig sei, weil er die Gleichstellung von Mann und Frau unterwandere. Warum, so fragt die Richterin, solle denn nur die Frau von einem gelösten Verlöbnis den Schaden haben?
Die Klägerin geht bis vors Bundesverfassungsgericht. Das aber hat am Urteil von Schöne nichts auszusetzen. Der Kranzgeld-Paragraf gilt offiziell als veraltet, seine Tilgung ist nur noch eine Frage der Zeit.
"Billige Entschädigung"
Für die Bezeichnung des Kranzgeld-Paragrafen gibt es verschiedene Erklärungen. Eine davon verweist auf einen alten Hochzeitsbrauch: Während Jungfrauen weiß bekränzt zum Altar schreiten durften, musste die bereits "Befleckte" mit einem Strohgeflecht das Ja-Wort geben.
1896 findet der Kranzgeld-Paragraf als Nummer 1.300 Eingang in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und tritt mit diesem vier Jahre später in Kraft. "Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen", heißt es von nun an im BGB. Und weiter: "Der Anspruch ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben über, es sei denn, dass er durch Vertrag anerkannt oder dass er rechtshängig geworden ist."
"Kommerzialisierung der Geschlechtsehre"
Begründet wird der Kranzgeld-Paragraf mit der Vermutung, dass eine vom Verlobten bereits Verführte später weniger Chancen auf dem Heiratsmarkt habe. Doch bereits kurz nach Aufnahme ins BGB regt sich Protest gegen diese "Kommerzialisierung der weiblichen Geschlechtsehre". Trotzdem wird der Paragraph später hin und wieder bemüht: 1910 etwa wird ein Ex-Verlobter zu 15.000 Reichsmark Schadenersatz verurteilt.
Aber der Wert der verlorenen Ehre sinkt im Laufe der Zeit rapide. In den 60er Jahren bemisst ein Gericht in der Bundesrepublik das Kranzgeld auf 500 D-Mark. Am 4. Mai 1998 fliegt der Paragraf mit einer Neuordnung des Eheschließungsrechts endgültig aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch heraus.
Stand: 04.05.2013
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