Ganze 585 Meter ragt die Binzer Seebrücke in die Ostsee, auf der sich am 28. Juli 1912 mehr als 1.000 Badegäste drängeln. Der Dampfer "Kronprinz Wilhelm" und ein heranfahrender Marinekreuzer haben an diesem Sonntag die Menschen auf das hölzerne Bauwerk gelockt. Binz auf der Insel Rügen ist schon länger ein beliebtes Urlaubsziel für Kaufleute, Rechtsanwälte und Ärzte. Die Dampfer, mit denen die meisten Touristen ins Ostseebad anreisen, halten immer an der unteren Plattform der Seebrücke - da, wo das Wasser mehrere Meter tief ist.
Gegen 18.30 Uhr legt die "Kronprinz Wilhelm" an, "um Fährgäste zu landen und aufzunehmen", wie es am Tag darauf im "Rügenschen Kreis- und Anzeigenblatt" heißt: Als "die Landung der Passagiere und des Gepäcks bereits erfolgt war, verschwand plötzlich die untere Brücke am Brückenkopf, auf welchem die einsteigenden Personen standen, in der Tiefe des Meeres und mit ihr etwa 70 bis 80 Personen." Die Ursache: Ein sieben bis acht langer Querbalken, auf dem der untere Teil der Landungsbrücke aufgelegen hat, sei gegen 19 Uhr offenbar aufgrund von Überbelastung entzweigebrochen.
95 Prozent Nichtschwimmer
Die Zuschauer auf dem oberen Teil der Brücke sind schockiert. Die Augenzeugin Maja Springer gibt zu Protokoll: "Auf dem Schiff und auf der Brücke standen die Menschen und starrten hilflos und tatenlos auf die verzweifelt mit dem Ertrinkungstod Kämpfenden." Damals können gerade mal rund fünf Prozent der Deutschen schwimmen. Einer von ihnen ist der 24-jährige Richard Römer, Sergeant der Garde, der wie Maja Springer auf der oberen Brücke steht. "Er entledigte sich seiner Mütze, zog seine Uniformjacke aus, an der sein Schwert befestigt war, und sprang in die Ostsee", erinnert sich Römers Ehefrau Clementine später an dessen Erzählung. "Er ist zu den jeweiligen Personen geschwommen und - um nicht von diesen festgeklammert zu werden - tauchte meistens unter ihnen durch, döppte sie und schwamm dann zu den eingestürzten Balken des Stegs, wo Nichtschwimmer halfen, die geretteten Menschen in Sicherheit zu bringen."
Römer kann auf diese Weise zwölf Menschen retten, 27 weitere werden von Matrosen lebend aus dem Wasser gezogen. 16 Menschen - zehn Frauen, vier Männer und zwei Kinder - sterben jedoch in den Fluten. "Es wurde als beschämend empfunden, dass kaum jemand bereit oder fähig war, zu retten oder Erste Hilfe zu leisten und Wiederbelebungsversuche zu machen", sagt Augenzeugin Springer.
Anlass für DLRG-Gründung
Ein Unglück mit Folgen, denn die Berichte der Zeitungen machen das Geschehen weit über Binz hinaus bekannt. Für Walter Mang aus Heidelberg und Walter Bunner aus Greifswald, die sich schon zuvor im Deutschen Schwimmverband für ein Wasserrettungswesen stark gemacht haben, ist die Binzer Tragödie letzter Anstoß, ihre Ideen umzusetzen. Mit Unterstützung maßgeblicher Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Sport sorgen die beiden dafür, dass am 19. Oktober 1913 in Leipzig die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) gegründet wird.
Die Binzer Seebrücke, über die man heute als Rügen-Urlauber flanieren kann, hat mit der Unglücksbrücke nichts mehr zu tun. Diese sei zwar wiederaufgebaut, im Winter 1942 aber durch Eisbildung komplett zerstört worden, sagt der Rügener Historiker Wolfgang Buchhester. "Erst 1993 ist die neue Seebrücke dann errichtet worden, die aber nur eine Länge von 360 Metern hat."
Stand: 28.07.2012
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