"Da können wir unmöglich spielen. Das funktioniert überhaupt nicht!" So beschweren sich 1956 Europas Fußball-Nationen beim Weltverband FIFA nach der Vergabe der WM 1962 an den Außenseiter Chile. Stolz verspricht das noch wenig entwickelte Land: "Weil wir nichts haben, werden wir alles erschaffen." Die Vorbereitung des Weltturniers gibt dem lang gestreckten Kordilleren-Staat einen gewaltigen Schub - bis die Vorfreude einen fürchterlichen Rückschlag erleidet.
Im Mai 1960 wird Chile vom schwersten bis heute gemessenen Erdbeben getroffen. Tausende sterben, viele Städte liegen in Schutt und Asche, rund zwei Millionen Chilenen, ein Viertel der Bevölkerung, sind obdachlos. Spanien und Deutschland bieten sich als Ersatzausrichter an. Doch Chile will auf das Weltereignis nicht verzichten und vollbringt unter Aufbietung aller Kräfte eine kaum für möglich gehaltene Leistung: Pünktlich am 30. Mai 1962 kann die 7. Fußball-Weltmeisterschaft eröffnet werden. Dass sie als sportlich schlechteste WM aller Zeiten in die Annalen eingehen wird, ist nicht dem Ausrichter anzulasten.
Die Schlacht von Santiago
Bereits in der Vorrunde ersetzt der von Italien perfektionierte Catenaccio, ein rigoros defensiver Abwehrriegel, den attraktiven Offensivfußball, wie er die Zuschauer noch bei der WM 1958 begeistert hat. "Es war ein grauenhafter Fußball", erinnert sich Mittelstürmer Uwe Seeler, dessen Mannschaft von Bundestrainer Sepp Herberger ebenfalls auf reine Defensive eingeschworen wurde. Als Deutschland die Vorrunde als Gruppenerster beendet, fühlt sich Trainer-Patriarch Herberger, der Weltmeister von 1954, in seiner Taktik bestätigt, obwohl seine Elf lieber stürmen will.
Zur lähmenden Sicherheitstaktik kommt die Brutalität, mit der in fast allen Spielen zur Sache gegangen wird. 50 verletzte Akteure können bereits nach der Vorrunde das Turnier nicht mehr fortsetzen. Den grausamen Höhepunkt liefert die Partie Italien gegen Chile, die als "Schlacht von Santiago" in die Fußballhistorie eingeht. Vor den Augen des völlig überforderten englischen Schiedsrichters ereignen sich auf dem Platz Prügeleien, Kung-Fu-Tritte und Knochenbrüche. Sogar Polizisten müssen eingreifen, um einen des Feldes verwiesenen Spieler abzuführen oder Schlägereien zu beenden.
Der "Mann mit der Mütze" übernimmt
In Chile vertieft sich die Kluft zwischen den jungen deutschen Spielern und dem bereits 65-jährigen Bundestrainer. Herbergers Ideal des "Elf Freunde müsst ihr sein" und das Selbstbewusstsein der neuen Profi-Generation passen nicht mehr zusammen. Das Viertelfinale gegen Jugoslawien markiert das Ende der Ära Sepp Herberger. Die DFB-Elf um Kapitän Hans Schäfer, dem letzten verbliebenen "Helden von Bern" 1954, verliert mit 0:1 und scheidet enttäuschend aus. Weltmeister Brasilien kann später im Finale gegen die damalige CSSR seinen Titel verteidigen und Gastgeber Chile erringt mit einem Sieg über Deutschland-Bezwinger Jugoslawien überraschend den dritten Platz.
Die WM 1962 ist das letzte große Sportereignis ohne Live-Bilder. Entweder hören die deutschen Fans die Spiele über Kurzwelle oder sehen sie zwei Tage später als TV-Aufzeichnung. Das DFB-Team bekommt von der Stimmung daheim nach dem frühen Aus nichts mit. So fällt Herberger "aus allen Wolken", als er nach der Rückkehr schockiert das Medienecho erfährt. "Wankelmütiger, verbiesterter Diktator, dem in den letzten Jahren selten etwas Konstruktives eingefallen ist", muss er über sich lesen. Ein Jahr lang erträgt Herberger die zermürbende Kritik, dann übergibt der "Bundessepp" die Mannschaft endgültig seinem Assistenten Helmut Schön, dem "Mann mit der Mütze".
Stand: 30.05.2012
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