Solch eine Veranstaltung hat das geschichtsträchtige Gewerkschaftshaus am Moskauer Puschkin-Prospekt noch nie erlebt. Nicht Russlands Spitzenpolitiker, sondern deren Ehefrauen füllen an einem Frühjahrstag 1987 den Säulensaal. Angeführt von Raissa Gorbatschowa, der Gattin des sowjetischen Parteichefs, verfolgen die Damen gebannten Blickes, wie deutsche Models in topaktueller Mode aus dem Westen über den Laufsteg defilieren.
In der ersten Reihe neben Frau Gorbatschowa sitzt die Veranstalterin Aenne Burda und birst förmlich vor Stolz, dass ihr Moskau zu Füßen liegt. "Was für eine ungeheure Begeisterung, so was kann man nicht wiederholen", schwärmt die Verlegerin des Fashion-Blattes "Burda Moden" von dem Ereignis, das sie in ihren Memoiren als Höhepunkt ihres Unternehmerlebens beschreibt. Die Modenschau beim Klassenfeind ist der Startschuss zu einer wahren Kulturrevolution, denn am 8. März 1987 kommt "Burda Moden" als erste westliche Zeitschrift in der Sowjetunion auf den Markt – in russischer Sprache.
Genscher macht’s möglich
Den Triumph verdankt Aenne Burda, Chefin des weltgrößten Modeverlags, der Beharrlichkeit ihrer Manager. Im Jahr zuvor hatte sich eine sowjetische Regierungsdelegation in ihrer Offenburger Verlagszentrale über moderne Druckmaschinen informiert. Dezent ließen Gorbatschows Emissäre damals auch Interesse am Bestseller des Hauses, den "Burda Moden", durchblicken. Die Schnittmuster-Fibel gilt bei Osteuropas Damenwelt als einer der heißesten Artikel, der auf dem Schwarzen Markt – zu horrenden Preisen – zu haben ist.
Doch Aenne Burda will von dem neuen Markt nichts wissen. "Nach Russland liefern? Zu den Kommunisten? Damit will ich nichts zu tun haben", erklärt die Primadonna der Modeblätter ihrer konsternierten Managerriege. Zehn Tage brauchen die Herren, um ihre resolute Chefin von den einzigartigen wirtschaftlichen Möglichkeiten zu überzeugen. Erst, als Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, ein enger Freund Aenne Burdas, vom großen Interesse der modebewussten Raissa Gorbatschowa berichtet, gibt die Verlegerin ihre Zustimmung zur Osterweiterung.
"Sonderbotschafterin" Aenne Burda
Die Startauflage von 100.00 Heften ist im Handumdrehen vergriffen. "Burda Moden ist eine bewundernswerte Zeitschrift, die uns in Russland das Fenster zu westlichen Kultur geöffnet hat", freut sich etwa die Offiziersgattin Elena Tumanova gegenüber westdeutschen Journalisten. Außenminister Genscher erklärt Aenne Burda gar zu seiner "Sonderbotschafterin, die in Moskau mehr geleistet hat als drei Botschafter zuvor". Innerhalb weniger Monate klettern die Verkaufszahlen der sowjetischen "Burda Moden" auf zwei Millionen Exemplare.
Für den Offenburger Verlag kommt der Erfolg im Osten gerade recht, denn auf dem heimischen Markt findet das seit 1952 erscheinende Blatt mit Schnittmustern für "preiswerte Mode zum Selbermachen" immer weniger Käuferinnen. In kürzester Zeit spannt Hubert Burda, Aennes Sohn und Kronprinz an der Verlagsspitze, ein effizientes Vertriebsnetz über den gesamten Ostblock. Anzeigen-Kunden reißen sich förmlich darum, bei den Burdas inserieren zu können. Zwei Jahre nach der Moskauer Premiere vertraut KPdSU-Chef Gorbatschow den Offenburgern sogar das Anzeigengeschäft für die Regierungszeitung "Iswestija" an.
Stand: 08.03.2012
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