Stichtag

24. Dezember 1961 - Erste Adveniat-Kollekte in katholischen Kirchen

Zu Beginn der 1960er Jahre schreiben katholische Priester aus Lateinamerika dringende Hilfsgesuche an die Amtsbrüder in der prosperierenden Bundesrepublik. In den meisten ihrer Heimatländer herrschen noch koloniale Verhältnisse; mit Gewalt und gestützt durch die USA verteidigen autokratische Herrscher und Militärs die Macht, während der größte Teil der Bevölkerung entrechtet in bitterer Armut lebt.

Kölns Erzbischof Josef Kardinal Frings hat 1958 die Fastenspendenaktion Misereor initiiert. Gemeinsam mit dem Essener Bischof Franz Hengsbach treibt Frings nun in der Deutschen Bischofskonferenz die Idee eines zweiten katholischen Hilfswerks für die Kirche Lateinamerikas voran. Den Grundstock soll eine Sammelaktion in den Weihnachtsgottesdiensten schaffen. An Heiligabend 1961 findet in allen bundesdeutschen Kirchen erstmals eine Kollekte zugunsten der Not leidenden Glaubensbrüder und –schwestern in Übersee statt. 1969 wird sie als "Bischöfliche Aktion Adveniat" institutionalisiert und die Leitung der Diözese Essen übertragen.

Entstehung der Befreiungstheologie

Rund 23 Millionen D-Mark kommen bei der ersten Adveniat-Kollekte zusammen. Das Geld wird vor allem in die Ausbildung von Priestern und in den Bau von Kirchen und Gemeindezentren investiert. Durch starke katholischen Strukturen, so die Idee von Frings und Hengsbach, soll das Bewusstsein der Menschen Lateinamerikas gebildet werden, um sie zu befähigen, Verantwortung für die eigene Situation und die Entwicklung der Gesellschaft zu übernehmen. Hilfe zur Selbsthilfe also, heute das grundlegende Entwicklungshilfe-Konzept, das vor 50 Jahren aber noch völlig neu ist.

Im Lauf der 60er Jahre verschärfen sich in Lateinamerika unter raffgierigen Diktatoren und brutalen Militärjuntas die soziale Misere und die Missachtung der Menschenrechte derart, dass eine neue kirchliche Bewegung aus dem Volk entsteht: die sozialreformerische Befreiungstheologie. Kirchenführer wie der brasilianische Erzbischof Dom Helder Camara oder der Theologe Leonardo Boff erweitern in für die katholische Kirche revolutionärer Weise den Kanon seelsorgerischer Arbeit. Sie hinterfragen öffentlich die Ursachen des sozialen Unrechts und unterstützen das politische Aufbegehren der unterdrückten, hungernden und verfolgten Menschen.

Kirche contra Kommunismus

Die "linken" Aktivitäten der Befreiungstheologen werden von der Amtskirche mit höchstem Misstrauen verfolgt. Groß ist die Angst, ausgerechnet die römisch-katholische Kirche könnte dem Vordringen des Marxismus in Südamerika Vorschub leisten. Zu den schärfsten Kritikern der Befreiungstheologie zählen die Adveniat-Gründer Hengsbach und Frings, dessen Kölner Nachfolger Joseph Höffner und der Leiter der vatikanischen Glaubenskongregation, Josef Ratzinger. "Die Theologie der Befreiung führt ins Nichts", dekretiert der Ruhrbischof Hengsbach 1977. "In ihrer Konsequenz liegt der Kommunismus."

Weltweit begehren Gläubige gegen die radikale Disziplinierung der Befreiungstheologen durch die Amtskirche auf. Der Vatikan muss sich daran erinnern lassen, dass der Katholizismus in Lateinamerika traditionell nicht nur Anwalt der Armen, sondern von je her auch integrale Stütze repressiver Systeme und deren wirksamste Waffe zur Lenkung der gläubigen Volksschichten war. Der amtierende Adveniat-Geschäftsführer, Prälat Bernd Klaschka, distanziert sich heute von den Äußerungen Hengsbachs. Die Theologie der Befreiung habe die soziale Problematik ins Bewusstsein gerückt und die richtigen Fragen aufgeworfen. Den Aktivitäten des Hilfswerks stellen Experten trotz des innerkirchlichen Ideologie-Spagats gute Noten aus. Sie hätten "zur Überwindung von ungerechten Systemen und Militärdiktaturen beigetragen", urteilt die kirchenunabhängige Nichtregierungsorganisation Germanwatch. Rund 2,3 Milliarden Euro hat Adveniat nach eigenen Angaben bis heute gesammelt und damit über 200.000 Projekte unterstützt.

Stand: 24.12.2011

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