Eine neue Eskalationsstufe im Nordirland-Konflikt: Am 30. Januar 1972 schießen britische Soldaten in Londonderry auf einen verbotenen Protestzug von Katholiken. An diesem Sonntagnachmittag sterben 13 Demonstranten, ein weiterer erliegt später seinen Verletzungen. Insgesamt werden 16 Zivilisten verwundet. Über die Ereignisse gibt es widersprüchliche Angaben. Ein Armeesprecher behauptet, die Fallschirmjäger seien beschossen worden und hätten das Feuer erwidert. Zahlreiche Augenzeugen sagen jedoch aus, die Soldaten hätten wahllos in die Menge geschossen.
Für die katholische Minderheit im formal autonomen Nordirland kommt die Aktion einer Kriegserklärung gleich. Seit Jahrzehnten fühlt sie sich von der protestantischen Mehrheit im Land benachteiligt und von der Polizei schikaniert. Dass nun auch die britische Armee auf offenbar friedliche Bürgerrechtler schießt, statt als unparteiische Schutzmacht aufzutreten, verschärft die explosive Lage. Der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken schwelt bereits seit Jahrhunderten.
20 Jahre lang Bürgerkrieg
Nach dem "Blutsonntag" von Derry - wie katholische Nordiren Londonderry aus politischen Gründen nennen, verübt die katholische Untergrundorganisation "Irisch-Republikanische Armee" (IRA) aus Rache mehrere tödliche Anschläge. Im Gegenzug üben probritische protestantische Extremisten brutale Vergeltung an Katholiken - eine Spirale von Hass und Gewalt, die tausende Menschen das Leben kostet und Nordirland buchstäblich zerreißt. "Die Katholiken verließen gemischte Gegenden in Belfast oder Derry und zogen in rein katholische Stadtteile", sagt der Kölner Historiker und Experte für irische Geschichte, Professor Jürgen Elvert. "Die Protestanten reagierten ebenso und zogen in rein protestantische Stadtteile."
Über 20 Jahre tobt ein Bürgerkrieg im - seit März 1972 wieder von London regierten - Nordirland. Erst in den 90er Jahren kommt Bewegung in die verhärteten Fronten. 1998 wird ein Friedensabkommen geschlossen und der britische Premier Tony Blair beruft eine Kommission, die das Massaker aufklären soll. Zwölf Jahre später liegt das Ergebnis vor, das Premier David Cameron am 15. Juni 2010 im Unterhaus zusammenfasst. Der Abschlussbericht bestätigt alle Vorwürfe: Die Armee habe zuerst gefeuert, daran sei nicht zu rütteln, so Cameron. Die Opfer hätten keine Gefahr für die Soldaten dargestellt, auch wenn einige Demonstranten mit Sprengkörpern und Waffen hantierten. Einige Soldaten hätten bewusst gelogen.
Regierung entschuldigt sich
Die Details, die die Kommission zusammengetragen hat, sind erschreckend: Ein Mensch wurde erschossen, als er "vor den Soldaten davon kroch" und ein anderer, als er "schon tödlich verwundet am Boden lag". Ein Vater sei beschossen und verletzt worden, als er sich um seinen Sohn kümmern wollte. "Die Regierung ist letzten Endes für das Verhalten des Militärs verantwortlich", sagt Cameron, der seit Mitte Mai 2010 im Amt ist. "Deshalb entschuldige ich mich im Namen der Regierung und des ganzen Landes aus tiefstem Herzen." Angehörige der Opfer reagieren darauf mit Genugtuung.
Vor dem "Blutsonntag" in Londonderry gab es in Irland bereits einmal einen "Blutsonntag" - und zwar in Dublin. Dort ermorden am 21. November 1920 Todeskommandos der IRA britische Spitzel. Aus Rache schießen daraufhin britische Einheiten am selben Tag bei einem Gaelic-Football-Spiel wahllos in die Menge.
Stand: 30.01.2012
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