Die junge Frau ist auf 35 Kilogramm abgemagert, blass und trägt ein Sommerkleid in orange. Sie wirkt panisch und verwirrt, als sie den Schrebergarten einer Rentnerin betritt und um Hilfe bittet. Am 23. August 2006 endet einer der aufsehenerregendsten Kriminalfälle Österreichs: Natascha Kampusch, seit achteinhalb Jahren vermisst, entkommt ihrem Entführer. Als Zehnjährige war sie auf dem Schulweg von einem Mann in einen weißen Kastenwagen gezerrt worden. Mit 18 Jahren befreit sie sich – da hat sie fast ihr halbes Leben in der Gewalt des Wolfgang Priklopil verbracht.
Der Täter will kuscheln
Fünfeinhalb Quadratmeter misst die Grundfläche des Verlieses im Keller eines Hauses in der Nähe von Wien: sechs Schritte lang, vier Schritte breit, zwanzig Schritte im Kreis. Es ist dunkel, feucht und kalt. Ein Ventilator pustet abgestandene Luft hinein. Wenn Natascha Kampusch wissen will, wie viel Zeit vergeht, muss sie die Sekunden selbst zählen. Ihr Entführer Wolfgang Priklopil ist zum Tatzeitpunkt 36 Jahre alt, mittelgroß, mittelblond und vollkommen unauffällig. Sein Gesicht ist sanft und verheißt auf den ersten Blick nichts Böses. Am Anfang spielt er den Beschützer, liest und singt ihr vor. Und erzählt ihr von Leuten, die sie wieder abholen werden. Das ändert sich, als Natascha eine junge Frau wird. Priklopil will die perfekte Partnerin heranzüchten: blond, brav, gertenschlank. Er kontrolliert jede ihrer Regungen, lässt sie hungern. Sie muss für ihn putzen und kochen. Und sie soll vor ihm knien. In ihrer Autobiografie "3096 Tage" schreibt Kampusch: "Ich habe ihn kein einziges Mal in all den Jahren, in denen er es vehement von mir forderte, Gebieter genannt. Ich habe nie vor ihm gekniet." Dafür gibt es Schläge. Ob er sie vergewaltigt hat, darüber schweigt sie bis heute. Kampusch: "Der Täter war in vielerlei Hinsicht grausamer, als man es sich überhaupt ausmalen kann. Doch wenn er mich in den Nächten an sich fesselte, ging es nicht um Sex. Der Mann, der mich schlug und hungern ließ, wollte kuscheln."
"Ich weiß, dass ich das Leben in Freiheit meistern kann."
In der Zwischenzeit suchen österreichische Behörden nach dem Mädchen. Am 2. März 1998 wurde Natascha Kampusch zum letzten Mal gesehen. Seither verliert sich ihre Spur. Die Polizei überprüft die Besitzer von weißen Kastenwagen, befragt Wolfgang Priklopil sogar zwei Mal, untersucht sein Auto, findet nichts. Jahre nach ihrem Verschwinden geht sie davon aus, nicht mehr nach einer lebenden Person zu suchen. Der Täter fühlt sich sicher. Er geht mit Natascha Kampusch in die Drogerie, den Baumarkt, zum Skifahren. Er droht ihr, alle zu erschießen, wenn sie um Hilfe ruft. Lange Zeit glaubt sie ihm. Kampusch erinnert sich in ihrem Buch: "Die große Natascha nahm die kleine in den Arm und tröstete sie. Ich werde dich da rausholen, das verspreche ich dir. Mit 18 werde ich den Täter überwältigen." Auch sie droht ihm: Eines Tages werde ich gehen, werde ich fliehen können. Am 23. August 2006 kommt der Tag. Als Natascha in der Garage das Auto saugt, klingelt Priklopils Handy. Zum ersten Mal seit acht Jahren dreht er sich für einen Moment weg. Natascha Kampusch läuft. Es ist der 3096. Tag ihrer Gefangenschaft, sie ist 18 Jahre alt. Acht Stunden nach ihrer Flucht wirft sich Wolfgang Priklopil vor einen Zug der Wiener Schnellbahnlinie S1. "Ich weiß, dass ich das Leben in Freiheit meistern kann. Und diese Freiheit beginnt jetzt."
Stand: 23.08.2011
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 23. August 2011 ebenfalls an Natascha Kampusch. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.