Auf seinem Weg vom Ontario- zum Eriesee stürzt der Niagara-River über einen riesigen Halbkreis aus Felsen achtundfünfzig Meter in die Tiefe. Kein Rekord der Natur: Fünfzig Wasserfälle weltweit sind größer. Aber die Niagara-Falls liegen unmittelbar an der Grenze zwischen den USA und Kanada und praktisch direkt in der Stadt - leicht zugänglich und eine ideale Kulisse für das Show-Business.
Als erster begreift dies ein französischer Artist: Jean Francoise Gravelet, Hochseil-Wunder seit seiner Kindheit, kommt als Tourist zu den Fällen - und bleibt beruflich. Am 30. Juni 1859 lässt er ein Seil über die Fälle spannen und balanciert von der US-amerikanischen auf die kanadische Seite. Zwanzig Minuten dauert sein Spaziergang, - und gelingt, obwohl einige Zuschauer an den Spannseilen zerren, weil sie Wetten auf seinen Absturz abgeschlossen haben. Gravelet wiederholt sein Kunststück monatelang, wobei er mal eine Schubkarre schiebt, mal Kopfstand macht oder mit verbundenen Augen balanciert. Als er im Sommer 1860 seinen Manager über die 335 Meter lange Strecke trägt, reißt ein Halteseil. Verzweifelt hält Gravelet sich und den Manager auf dem schwingenden, 7 cm dicken Balancierseil. Sechs Mal muss er anhalten. Aber er schafft es auch diesmal. Gravelet wird ein Star und reich. Er stirbt 1897 mit 73 Jahren in seinem Bett.
Gravelet wird ein zweifelhaftes Vorbild: Etwa für Annie Taylor, die sich 1901 in einem Holzfass die Fälle hinunterfallen lässt. Sie überlebt. 1995 springt Robert Overacker mit einem Jetski die Fälle hinab - und stirbt. Hätte er überlebt, wäre er verhaftet worden. Denn Mutproben an den Falls sind inzwischen unter Strafe gestellt.
Stand: 30.06.04