Die wachsende Kritik an der "neoliberalen Weltwirtschaft" führt Ende der 1990er Jahre zu Massenprotesten: Im amerikanischen Seattle erzwingen 1999 zehntausende sogenannte Globalisierungsgegner nach Auseinandersetzungen mit der Polizei den Abbruch der WTO-Ministerkonferenz. Auch im Jahr darauf protestieren Tausende gegen die Sitzung von IWF und Weltbank in Prag. Das Treffen endet frühzeitig, nachdem Demonstranten die Innenstadt lahmgelegt haben.
Beim G8-Gipfel in Genua 2001 soll jede Störung unterbleiben: Das Hafengelände und die Innenstadt von Genua werden zum Sperrgebiet erklärt. Keiner der erwarteten 200.000 Demonstranten soll auch nur in die Nähe des Tagungsortes gelangen. Genau darauf haben es jedoch die italienischen "Disobbedienti", die "Ungehorsamen" abgesehen. Diese linksautonome Sammlungsbewegung steht vor dem Gipfeltreffen im Zentrum der Aufmerksamkeit: "Sie wollten sich mit ihrem Protestzug möglichst weit vorwagen, vielleicht symbolisch einen Fuß in das Sperrgebiet setzen und sich dann wieder entfernen", sagt Mario Portanuova, der damals als Journalist in Genua war. "Hohe Polizeibeamte haben später ausgesagt, dass sie darüber im Stillen mit den 'Ungehorsamen' verhandelt hätten."
Stundenlange Straßenschlacht
Doch es kommt anders: Der Protestzug der "Ungehorsamen" kreuzt am 20. Juli 2001 überraschend eine Carabinieri-Einheit, die den Befehl hat, an anderer Stelle gegen vermummte Randalierer des Schwarzen Blocks vorzugehen. "Plötzlich fliegen Steine, allerdings nicht aus dem Protestzug, sondern von woanders", erinnert sich Poranuova, "und der Kommandant der Carabinieri trifft die folgenschwere Entscheidung, die 15.000 Demonstranten, die sich in Richtung Sperrgebiet schieben, zu attackieren." Daraufhin kommt es zu einer stundenlangen Straßenschlacht. Denn nun eilen den Carabinieri Hundertschaften der Polizei zu Hilfe, die unkoordiniert und ungezügelt Schlagstöcke, Tränengas und Gummigeschosse einsetzen. Die Beamten prügeln auf Demonstranten ein, die ihre Hände hochhalten, auf Verletzte, die am Boden liegen.
Hunderte Demonstranten werden in die Polizeikaserne von Bolzaneto außerhalb Genuas gebracht. Bolzaneto wird zu einer Gefangenen-Sammelstelle und zu einem rechtsfreien Raum: "Es hagelt Ohrfeigen, Faustschläge, Fußtritte, dazu Beleidigungen und Demütigungen", sagt Portanuova. "In Bolzaneto spielt sich eine widerwärtige Gewalt- und Machtorgie ab." Während dessen gehen in der Stadt die Straßenkämpfe weiter. Kurz vor 17.30 Uhr fällt auf der Piazza Alimonda ein Schuss. Er trifft den 23-jährigen Demonstranten Carlo Guiliani tödlich an der Schläfe.
Schlafende Demonstranten überfallen
Carabiniere Mario Placanica bestreitet später, als einziger geschossen zu haben. Er sei mit Kollegen in einem nicht gepanzerten Jeep von Demonstranten umzingelt worden und in Panik geraten. Eine Richterin entscheidet zwei Jahre später, es habe sich um Notwehr gehandelt. Gegen die Polizisten, die an den Misshandlungen in Bolzaneto beteiligt waren, laufen dagegen immer noch Strafverfahren. Auch das Stürmen einer Schule, in der Demonstranten übernachteten, ist gerichtlich noch nicht abgeschlossen. 63 Menschen wurden dabei verletzt, die Hälfte von ihnen schwer.
Als Journalisten die Schule besichtigen können, finden sie Blutlachen auf dem Boden. "Wir fanden keine Worte für das, was wir sahen", so Portanuova. Dieser Überfall habe ihn an Chile unter Diktator Pinochet erinnert. Der Polizeieinsatz in Genua wird ein internationaler Skandal. Doch immer noch ist unklar, wer welche Befehle gegeben hat, sagt Portanuova: "Bis heute will niemand die Verantwortung für das Unrecht, das in Genua geschehen ist, übernehmen."
Stand: 20.07.2011
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