Frühsommer 1986, wenige Wochen nach dem Super-GAU in Tschernobyl: Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid ergibt, dass in der Bundesrepublik 81 Prozent der Befragten gegen den Neubau weiterer Atomkraftwerke sind. Solche Umfragen finden in Regierungskreisen jedoch kein Gehör. Deshalb rufen Naturschutz- und Friedensorganisationen für den 7. Juni 1986 wieder einmal zu einer Großdemonstration in Brokdorf auf. Seit 1973 wird dort - rund 65 Kilometer nordwestlich von Hamburg - an einem neuen Atomkraftwerk gebaut. Bereits im Genehmigungsverfahren hatte es rund 20.000 Einwände gegeben. Doch die Baugenehmigung ist so erteilt worden, dass gerichtliche Klagen gegen den Meiler nicht möglich sind.
Polizeisperren und Kontrollen
Über den Verlauf der Demonstration gibt es unterschiedliche Darstellungen. Auf den Weg nach Brokdorf haben sich nach Polizeiangaben rund 35.000 Atomkraftgegner gemacht. Nach Schätzungen der Veranstalter sind es hingegen insgesamt etwa 50.000 Teilnehmer. Auf dem Veranstaltungsgelände in Brokdorf trifft allerdings nur ein Teil der Demonstranten ein. Die Polizei spricht von 10.000, die Veranstalter von 30.000. Die restlichen Demonstranten bleiben auf dem Weg stecken. Sie müssen Kontrollsperren passieren, die von der Polizei auf Autobahnen und Bundesstraßen errichtet wurden. Demonstranten werden nach Waffen durchsucht. Polizeieigene Container blockieren auch kleine Straßen und Feldwege. Bei Kleve südlich von Itzehoe - etwa zehn Kilometer vom umstrittenen Reaktor entfernt - wird ein Auto- und Bus-Konvoi tausender Demonstranten aus Hamburg für mehrere Stunden an einer solchen Sperre gestoppt - bis sie am Abend unverrichteter Dinge die Rückreise antreten müssen.
Doch vorher kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Szenen. Die Organisatoren der Demonstration berichten, bei Kleve seien Mitglieder eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) aus Verstecken aufgesprungen und hätten mit Knüppeln auf Atomkraft-Gegner und Autos eingeschlagen. Dabei seien Scheiben, Scheinwerfer und Dächer von rund 70 Fahrzeugen zertrümmert worden. Gegenwehr der Demonstranten hätte es erst nach dem SEK-Angriff gegeben. Rund 30 Beamten seien von etwa 100 Demonstranten angegriffen worden, meldet die Polizei später. Auf beiden Seiten gibt es mehrere Verletzte. Die Beamten beschlagnahmen nach eigenen Angaben stählerne Wurfgeschosse, Schlagwerkzeuge, Gasmasken und Helme.
Hamburger Kessel am Tag danach
Auch rund um die Atomanlage kommt es zu Auseinandersetzungen. Auf deren Deichseite haben sich besonders viele Menschen versammelt. "Ohne erkennbaren äußeren Grund räumte die Polizei mit Wasserwerfern die Straße", schreibt ein Reporter der Frankfurter Rundschau in seinem Bericht. "Der Grund für die Räumung, so hieß es später, sei die Tatsache gewesen, dass sich die Demonstranten hier nicht hätten aufhalten dürfen." Für militante Atomkraft-Gegner sei die Aktion das Signal zum Angriff gewesen: "Leuchtspurgeschosse flogen in Richtung der Polizeikette, Steine prasselten auf die Beamten, 'Molotowcocktails' gingen in Flammen auf." Die Polizei habe Tränengas eingesetzt. Die Wasserwerfer seien auch gegen die übrige Menge am Deich eingesetzt worden. Als auch das Kundgebungsgelände auf einem Parkplatz mit Tränengas-Granaten beschossen wird, so das Hamburger Abendblatt, brechen die Organisatoren die Versammlung ab.
Einen Tag nach der Großdemonstration in Brokdorf versammeln sich in Hamburg rund 800 Demonstranten, die in Kleve an der Weiterfahrt zum Reaktor gehindert worden waren. Sie werden mehr als 13 Stunden von der Polizei eingekesselt. Diese Polizeitaktik geht als sogenannter Hamburger Kessel in die Geschichte ein und wird gerichtlich als rechtswidrig erklärt. Der Atommeiler in Brokdorf geht - wie vorgesehen - im Oktober 1986 ans Netz.
Stand: 07.06.2011
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