Ein unvergleichliches Symbol ihrer Größe will sich die ruhmreiche Seerepublik Pisa errichten. Nach Plänen von Baumeister Bonanno Pisano soll auf der Piazza del Duomo, neben dem aus weißem Carrara-Marmor erbauten Dom, ein schlanker, säulenumrankter Campanile (Glockenturm) 100 Meter hoch in den Himmel streben. Doch dazu wird es nie kommen, denn schon kurz nach Baubeginn im Jahr 1173 beginnt der Ärger: Der Turmstumpf neigt sich zunächst nach Norden und dann, während eines hundertjährigen Baustopps, deutlich nach Süden. Mit Korrekturen in den Bauplänen versuchen die Architekten den Schiefstand auszugleichen – ohne Erfolg. Als im Jahr 1370, nach einer weiteren jahrzehntelangen Baupause, endlich im achten Stock die Glockenstube errichtet werden kann, weicht die Spitze des nun 54 Meter hohen Campanile bereits mehr als fünf Meter von der Senkrechten ab.
Vergeblich versuchen Architekten und Ingenieure in den folgenden Jahrhunderten immer wieder, den "torre pendente" (hängender Turm), das Wahrzeichen Pisas, zu stabilisieren. Als 1989 plötzlich der ähnlich konstruierte Glockenturm in Pavia einstürzt, müssen die Verantwortlichen handeln: Am 7. Januar 1990 wird der Schiefe Turm von Pisa, den im vergangenen Jahr noch über 800.000 Touristen erklommen hatten, für Besucher geschlossen. Eine eiligst gebildete Experten-Kommission lässt als Erste-Hilfe-Maßnahme einen Eisenring und Stützpfeiler am Turm anbringen. Doch die stören empfindlich die Ästhetik und lösen zudem das Problem nicht, denn der Turm steht wie auf einem Pudding. Das Fundament des Campanile ruht auf einer 70 Meter dicken Sedimentschicht aus Lehm, Ton und Sand, die sich ungleichmäßig verdichtet. "Der Turm neigt sich also zur Seite, weil der Boden auf der Südseite mehr nachgibt als im Norden", erklärt Professor Luca Sanpaolesi von der Universität Pisa. Aus aller Welt erhalten die Turm-Retter um Sanpaolesi Vorschläge, wie ein Umkippen des Campanile verhindert werden kann – seriöse und skurrile.
Die einen wollen ihn abtragen und woanders errichten, andere eine Statue als Stütze daneben setzen. Der Bochumer Ingenieur und Bergbauforscher Dr. Kurt Pfläging plant, "dem Turm mit Methoden zu helfen, die wir bei der Behebung von Bergbauschäden vielfach erprobt haben". Hubpressen sollen unter den Campanile geschoben werden, um ihn langsam wieder aufzurichten. Dazu müsste allerdings der Baukörper vom Fundament abgesägt werden – zu radikal für die Experten-Kommission in Pisa. 1997 entscheidet man sich schließlich, auf der Nordseite Erde unter dem Turm abzutragen. Um rund 40 Zentimeter wird das fragile Bauwerk so zurück in Richtung Senkrechte gedrückt. "Mit dieser Methode", konstatiert Professor Sanpaolesi, "haben wir den Kampf gewonnen." Seit Dezember 2001 dürfen wieder Besucher bis in die Glockenstube steigen, zur großen Erleichterung der örtlichen Tourismusbranche. Schließlich, so erklärt Pisas Bürgermeister Granchi, "ist der Campanile nicht gebaut worden, um nur von unten betrachtet zu werden."
Stand: 07.01.10