"Fast alle Menschen verzweifeln. Sie verzehren die Kadaver verendeter Tiere. Viele Arme sterben vor Hunger." Das schreibt der Mönch Reiner 1196 in den Annalen des Klosters St. Jakob in Lüttich. Weiter heißt es: "Die Armen lagen auf den Straßen umher und starben; auch vor der Tür unserer Kirche lagen sie zur Zeit der Matutin seufzend und sterbend." Reiner von Lüttich beschreibt in kurzen lateinischen Sätzen eine der größten Hungersnöte des Mittelalters. Ein Jahr zuvor, 1195, zerstörten Dauerregen und Unwetter die Ernte. "In diesem Jahr regnete es beständig vom Johannisfest (im Juni) bis Weihnachten ... außerdem richtete ein schweres Unwetter nach dem Jakobusfest (im Juli) alle Feldfrüchte zugrunde" erzählt Reiner von Lüttich in den Klosterannalen, eine der wichtigsten Quellen für die Naturkatastrophe. Ein Jahr später, 1196, breitet sich die Hungersnot über das heutige Belgien, Lothringen, West- und Süddeutschland bis nach Österreich aus.
Ein ganzes Jahr kein Bier
Brotgetreide wird knapp, die Preise steigen. Laut Reiner von Lüttich kostet ein Scheffel Roggen erst 18, dann 32 und bald 40 Schillinge. Auch das Kloster spürt die Folgen. "In diesem Jahr ging uns an Epiphanias (6. Januar) das Korn aus, und wir mussten bis zum August mehr als 100 Mark für Brot ausgeben." Und weiter: "Bier aber fehlte uns während des ganzen Jahres. Unser Roggenbrot hatten wir 15 Tage vor dem August aufgezehrt."
Fleisch für die Reichen, Brot für die Armen
Weitreichende Hungersnöte sind vor allem für das 11. und 12. Jahrhundert belegt. Sie entstehen immer dann, wenn es durch Missernten an Brotgetreide mangelt, denn Brot ist das Hauptnahrungsmittel der einfachen Bevölkerung. Hauptursache für Missernten ist die schlechte Ertragslage. Ein ausgesätes Korn ergibt drei Körner bei der Ernte. Heutzutage beträgt die Menge das zehn- bis fünfzehnfache. Jede Beeinträchtigung von Saat, Wachstum und Ernte schlägt unmittelbar auf die Versorgungslage durch. Und auch in guten Zeiten sind die Nahrungsmittel höchst ungleich verteilt: Reiche, also Adelige, Ritter, Fürsten und Geistliche, beziehen von den Bauern Abgaben und haben reichlich Lebensmittel zur Verfügung, auch Fleisch, Fett und Weißmehlprodukte. Viele Bauern und Tagelöhner leben jedoch ständig an der Grenze zur Unterernährung. Auf ihren Tellern liegt Getreidebrei oder Brot, dazu Zwiebeln, Lauch, Kohl oder Bohnen. Nur an Festtagen wird eine Speise mit Honig gesüßt. Obst, Eier und Geflügel sind Luxusgüter, ebenso wie Rind- oder Schweinefleisch.
Abt des Klosters tritt nach Hungersnot zurück
Die Hungersnot, die auf den verregneten Sommer 1195 folgt, endet erst nach drei Jahren. Wie viele Menschen daran gestorben sind, ist nicht überliefert. Die Katastrophe hat auch Folgen für das Kloster, so der Chronist Reiner: "Dieses Jahr war ... für unsere Kirche ein sehr schweres, wie sie solches weder vorher gehabt hat noch späterhin haben kann. Unser Abt Gozwin legte ... freiwillig die Abtswürde nieder, da er sah, dass bei soviel Widerwärtigkeit seine Kraft erlahmte."
Stand: 09.08.10