Derart hart hatten sich die Laiendarsteller ihren Ausflug ins 19. Jahrhundert nicht vorgestellt. Fassungslos reagieren die für die ARD-Doku-Soap "Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus" engagierten Freizeit-Stallknechte, -Hausmädchen und -Diener auf die bedrückend realistischen Lebensumstände, denen sie sich für die Dreharbeiten beugen müssen. Es ist ein Leben ohne Luxus, mit viel Arbeit und wenig Schlaf, vollgepackt mit Pflichten und nahezu ohne Rechte. Für die zeitreisenden Gesinde-Darsteller gelten auf dem historisch korrekt nachgestellten Preußen-Gutshof die gleichen Vorschriften wie vor 100 Jahren – streng nach der preußischen Gesindeordnung, die am 8. November 1810 erlassen wurde.
Dem Willen der Herrschaft untertan
Mehr als eine Million Menschen leben zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Landarbeiter oder Hausbedienstete in Preußen. "In allen Verrichtungen", so schreibt es die neue Gesindeordnung vor, haben sie sich "dem Willen der Herrschaft zu unterziehen". Wer seinen Herrn ohne Erlaubnis verlässt, wird polizeilich gesucht. Während sich im Handwerk und in der jungen Industrie allmählich ein liberaleres Arbeitsrecht durchsetzt, erlebt das Gesinde in Preußen einen Rückfall in überwunden geglaubte feudalistische Zustände. Selbst tief greifende Eingriffsrechte in das private Leben und das Recht auf körperliche Züchtigungen sieht die Gesindeordnung vor. Herr und Knecht – in den ländlichen Gebieten Preußens lebt der vorrevolutionäre Untertanengeist weiter.
Philisterhafter Kastengeist
Profiteure der preußischen Gesindeordnung sind vor allem die ostelbischen Großgrundbesitzer. Sie hatten nach Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1799 und dem Ende der Erbuntertänigkeit 1806 um ihre Arbeitskräfte fürchten müssen. Widerstand haben die meist adligen Junker dank der ihnen zugestandenen Herrschaftsrechte kaum zu fürchten, denn Gesindeangehörige dürfen sich nicht zusammenschließen oder gar streiken. So entsteht im Osten des Deutschen Reichs eine nahezu abgeschlossene soziale Welt, die auch für die im 19. Jahrhundert entstehenden Arbeiterbewegungen unerreichbar bleibt.
"Je mehr gegen Osten, desto größer der philisterhafte Kastengeist [der Junker] …, desto größer auch die Geringschätzung, mit der die kleinbürgerliche Welt in ihrer Beschränktheit auf die dienende Klasse herabsieht", schreibt eine anonyme Autorin um 1850 über die Auswirkungen der preußischen Gesindeordnung. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bleibt sie geltendes Recht. Erst als der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann im November 1918 proklamiert: "Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen" und vom Balkon des Reichstags die Republik ausruft, landet auch die reaktionäre Gesindeordnung von 1810 auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Stand: 08.11.10