Es ist ein beängstigendes Bild vom Zustand seiner Kirche, das Kardinaldekan Joseph Ratzinger entwirft: ein Schifflein im Sturm, die Wogen des Unglaubens schlügen ins Boot und nur ein Steuermann mit ruhiger Hand und unerschütterlichem Vertrauen auf Christus könne es lenken. 16 Tage zuvor ist Papst Johannes Paul II. gestorben; nun stimmt Joseph Ratzinger, seit 1981 Leiter der Kongregation für die Glaubenslehre, seine Kardinalskollegen im Konklave auf die Wahl eines Nachfolgers ein. Ratzinger spricht über eines seiner Lieblingsthemen, die "Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt". Der Vatikan-Kenner Marco Politi urteilt: "Es war ganz bestimmt die Rede, die seine Wähler hören wollten." Nach nur 26 Stunden geben die Kardinäle mit großer Mehrheit ihre Stimmen für den deutschen Cheftheoretiker des Katholizismus ab. Als Benedikt XVI. besteigt am 19. April 2005 der 78-jährige Joseph Alois Ratzinger aus Oberbayern den Heiligen Stuhl.
Bescheidener Arbeiter im Weinberg des Herrn
Vor allem konservative Kräfte wie etwa das Opus Dei haben nach Ansicht Politis und anderer führender Vatikan-Beobachter die Wahl Ratzingers durchgesetzt. Von dem weltbekannten, oft als "Panzerkardinal" titulierten Intellektuellen erwarten sie, dass er das schwankende Schiff aus dem Sturm herauslotst, den sein charismatischer Vorgänger entfacht hat. Mit dem Bußbekenntnis für die Fehler und Sünden der Kirche im Jahr 2002 und den groß inszenierten Gebetstreffen mit Führern anderer Weltreligionen hatte Johannes Paul II. auch aus Ratzingers Sicht den rechten Kurs verlassen und dem gefährlichen Relativismus der Moderne innerhalb der Kirche die Pforten geöffnet. Ratzinger dagegen, der sich im neuen Amt als "einfachen, bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn" bezeichnet, war stets ein kompromissloser Verfechter des Alleinvertretungsanspruchs der Papstkirche: Er bekämpfte die Befreiungstheologie in Südamerika, sprach sich vehement gegen feministische Reformen und Schwangerschaftsberatung aus und entzog Kritikern wie seinem früheren Freund Hans Küng gnadenlos die Lehrerlaubnis.
Großinquisitor aus Marktl am Inn
Begeisterte "Benedetto"-Rufe schallen nach Ratzingers Wahl über den Peterplatz. "Wir sind Papst", jubiliert die Bild-Zeitung. Doch die überschwängliche Euphorie, die dem ersten deutschen Papst seit fast 500 Jahren entgegenschlägt, hält nicht lange. Denn inhaltlich rückt Ratzinger auch als Benedikt XVI. keinen Deut von seinen Positionen ab, beweist dabei aber wenig diplomatisches Geschick und Kenntnis über die Sorgen der Menschen. Er bringt die muslimische Welt mit einem historischen Zitat gegen sich auf, begnadigt die ultrarechte Piusbruderschaft mit dem Holocaust-Leugner Richard Williamson, provoziert die jüdische Welt mit der Wiederzulassung der diskriminierenden Karfreitagsfürbitte und spricht den Protestanten den Status einer Kirche ab. So wird aus Benedetto wieder der "Großinquisitor aus Marktl am Inn, der für eine Mitsprache der normalen Gläubigen kaum noch Spielraum lässt" (Süddeutsche Zeitung). Spätestens seit pausenlos immer neue Fälle sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der Kirche publik werden, ballen sich düsterere Sturmwolken über dem Heiligen Stuhl, als es unter Johannes Paul II. je der Fall war. Doch auf ein deutliches Wort des Verstehens und einer uneingeschränkten Bitte um Verzeihung warten die Gläubigen – bislang – vergebens.
Stand: 19.04.10