Stichtag

01. Januar 1984 - Das "Orwell-Jahr" 1984 beginnt

Bereits am Neujahrstag 1984 steht fest: Das Wort des Jahres wird "1984" sein. Die allgegenwärtige Frage lautet: Ist die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft? Hin zum Staat des "Großen Bruders", so wie ihn der Schriftsteller George Orwell  1948 in seinem erschreckenden Zukunftsroman beschrieben hat. Schon seit Jahren fürchten immer mehr Deutsche, dass die in jüngster Vergangenheit eingeführten Beschneidungen der Grundrechte, etwa durch den Radikalenerlass und die von der RAF ausgelösten Anti-Terror-Gesetze, signifikante Schritte hin zum Orwell-Staat darstellen. Ausgerechnet im Vorfeld des Orwell-Jahres wird die Angst vor einer Schnüffel-Obrigkeit noch einmal richtig angeheizt: 1983 sollen die Bundesbürger eine "Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung" über sich ergehen lassen - für viele ein klares Indiz, dass "1984" à la Orwell buchstäblich vor der Tür steht.

Genau genommen beginnt das Orwell-Jahr 1984 nicht mit dem 1. Januar, sondern dem 4. April. An jenem Tag bringt Winston Smith, die Hauptfigur des Romans, seinen ersten heimlichen Tagebucheintrag zu Papier: "…Aus dem Zeitalter der Gedankenpolizei sendet ein toter Mensch Grüße…". Smith ist im so genannten Wahrheitsministerium zuständig für das Fälschen von Zeitungsmeldungen. Rund um die Uhr wird er von einer totalitären Behörde überwacht. In seiner Wohnung wie in der jedes anderen Bürgers hängt ein unaufhörlich Propaganda ausstoßender "Teleschirm". Verkörpert wird die totale Kontrolle durch den omnipräsenten "Großen Bruder": Big Brother is watching you! George Orwell verfasst seine bitterböse Utopie-Satire 1948 unter dem Eindruck der Terrorsysteme von Hitler und Stalin. Für den Titel verdreht der Autor lediglich die Ziffern der Jahreszahl. So wird ausgerechnet 1984 zur weltweit verständlichen Chiffre für Gesinnungsterror, Geschichtsfälschung und den Untergang des Individuums, für die anonyme Fremdbestimmung des Menschen durch Technik und Bürokratie.

Der lange Schatten von "1984" bewirkt, dass der befürchtete "gläserne Bürger" 1983 noch nicht Realität wird. Vor allem der geplante Abgleich von anonym erhobenen Personendaten mit den Melderegistern löst eine derart starke Boykottbewegung gegen die Volkszählung aus, dass sie Mitte Dezember, zwei Wochen vor Beginn des Orwell-Jahres, vom Bundesverfassungsgericht untersagt wird. Erst 1987 kann sie unter erheblich veränderten Bedingungen durchgeführt werden. Dafür erleben die Menschen 1984 drei bahnbrechende Innovationen, die bald in engem Zusammenhang mit der Furcht vor Manipulation und Überwachung gesehen werden: die Entdeckung des genetischen Fingerabdrucks, die Geburt des Internets und die Einführung des Privatfernsehens. 16 Jahre später wird "Big Brother" in Deutschland Wirklichkeit: Zur Jahrtausendwende lassen sich erstmals junge Menschen freiwillig in einen TV-Container einsperren und von einem Millionenpublikum rund um die Uhr begaffen. Intimste Dinge werden in Internet-Foren ausgebreitet. Angst vor dem Verlust der Privatsphäre hat - trotz kurzzeitiger Empörung über neue BKA-Gesetze, Datenklau und -missbrauch, nur noch eine Minderheit.

Stand: 01.01.09