Heiligabend 1967: Studentenführer Rudi Dutschke besetzt aus Protest gegen den Vietnamkrieg die Kanzel der Berliner Gedächtniskirche. Er will die kritischen Christen mobilisieren. Dutschke weiß: Die Gedächtniskirche ist nicht irgendein Gotteshaus, sondern ein symbolträchtiger Ort. Am Kurfürstendamm bilden eine Kriegsruine und eines der modernsten Kirchengebäude zusammen ein Ensemble. Die erste Gedächtniskirche wird 1895 von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht - in Erinnerung an seinen Großvater Wilhelm I., den Reichsgründer. Für Kritiker ist damals der wuchtige Bau im neuromanischen Stil eine architektonische Geschmacklosigkeit. Im Zweiten Weltkrieg zerstören alliierte Flieger die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Der frühere Charlottenburger Bezirksbürgermeister, Baldur Ubbelohde, hat den Angriff im November 1943 als 14-Jähriger miterlebt: "Rund 900 bis 1.000 Flugzeuge warfen flächendeckend Bomben, Phosphorkanister und Brandbomben ab. Ich trat dann aus dem Haus heraus und sah das Kirchenschiff lichterloh brennen."
Ende der 50er Jahre will Architekt Egon Eiermann die Trümmer vollständig abtragen lassen. Sein Entwurf für ein modernes Bauwerk sorgt für Proteste. Schließlich darf die Ruine des alten Turms als Mahnmal stehen bleiben. Der hohle Zahn, wie der eingebrochene Turm genannt wird, trägt die Kirchturm-Uhr: "Die Zeit als Merkmal geschichtlichen Geschehens, die soll ihm bleiben", findet Eiermann. Der Grundstein zur neuen Gedächtniskirche wird am 9. Mai 1959 gelegt. Rund 3.500 Berliner sind bei dem feierlichen Akt anwesend. "Lobet den Herrn" erklingt in vielstimmigen Chor. Der evangelische Bischof Otto Dibelius spricht: "Gott der Herr will bei Euch wohnen, und Ihr sollt sein Volk sein, Amen." Als der Neubau gut zwei Jahre später eingeweiht wird, teilt die Mauer die Stadt. Nur West-Berliner können das fertige Gotteshaus besichtigen: ein freistehender, 56 Meter hoher Glockenturm, daneben ein flaches, achteckiges Kirchenschiff - Lippenstift und Puderdose, spötteln die Berliner.
Weltbekannt sind vor allem die farbigen Fenster des neuen Turms und des Kirchenschiffs: rund 30.000 Glasmosaik-Teilchen, eingelassen in die quadratischen Waben der Stahlkonstruktion. Durch die vielen Blautöne herrscht im Innern ein faszinierendes Licht. Die Ruine des alten Turmes ist mittlerweile brüchig geworden. Die Tuffstein-Quader müssen saniert werden. In den Fugen und den Quadern haben sich Risse gebildet, durch die Regenwasser ins Mauerwerk eindringt. Die Kosten für den Erhalt betragen rund vier Millionen Euro. Das Geld dafür wird von Bund und Land, der Kirchgemeinde, von Stiftungen und privaten Spendern übernommen Die Arbeiten sollen im Sommer 2009 beginnen.
Stand: 09.05.09