Auf dem Plateau von Rainhill vor den Toren Liverpools herrscht Volksfeststimmung. Seit dem frühen Morgen strömen Tausende von Menschen zu Fuß, zu Pferd und in Kutschen herbei, um den Start eines technischen Ereignisses von historischer Tragweite mitzuerleben. Ein neuntägiges Wettrennen auf der Teststrecke zwischen Liverpool und Manchester soll entscheiden, welche Lokomotive stark genug ist, die Züge auf der weltweit ersten Eisenbahnverbindung moderner Art zu ziehen. Geplant hat den Großversuch der Erbauer der Strecke, Ingenieur George Stephenson, ein Autodidakt, der sich vom Kohlejungen zum führenden Ingenieur des aufstrebenden Eisenbahnwesens emporgearbeitet hat. Es war Stephensons visionäre Idee, die eigentlich rein technischen Versuchsfahrten zu einem Massenereignis zu machen, zu einem Aufsehen erregenden PR-Event. Stephensons Lokomotiven-Casting soll den Menschen die Ängste vor den fauchenden Stahlrössern nehmen, sie für das Massenverkehrsmittel der Zukunft begeistern und seinem Unternehmen lukrative Aufträge sichern.
Manchester, die Geburtsstadt des Industrie-Kapitalismus, ist in jenen Jahren Europas Zentrum der Baumwollverarbeitung. Rund 20.000 dampfbetriebene Webstühle verarbeiten den Rohstoff von den Baumwollplantagen der amerikanischen Südstaaten, der im Atlantikhafen von Liverpool gelöscht wird. Der Transport nach Manchester allerdings ist teuer und ineffektiv. Die Straßen sind miserabel und die Betreiber von Wasserwegen und Kanälen nutzen ihr Transportmonopol aus. 1823 gründen die Textil-Unternehmer deshalb die Liverpool & Manchester Railway Company. George Stephenson und dessen Sohn Robert erhalten den Auftrag, die erste Eisenbahnstrecke zu realisieren, auf der ausschließlich "locomotions ", also mobile Dampfmaschinen, zum Einsatz kommen. Die wenigen bislang betriebenen Kohlezüge werden meist noch von Pferden oder abschnittsweise von stationären Dampfmaschinen gezogen. Für die Stephensons ist es der Auftrag ihres Lebens. Am 6. Oktober 1829 steht die von Sohn Robert in der familieneigenen Lokomotivenfabrik konstruierte "Rocket" zum Wettrennen auf der vom Vater erbauten Strecke bereit.
Von ursprünglich vier Konkurrenten der "Rocket" haben es nur zwei bis zum Start bei den "Rainhill Trials" geschafft: die zierliche "Novelty" und die bullige "Sans Pareil". Sieger soll diejenige Lokomotive werden, die bei einem Eigengewicht von unter sechs Tonnen einen Zug von mindestens dem dreifachen ihres Gewichtes mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 12,5 Meilen pro Stunde bewegen kann. Schon nach wenigen Testtagen zeichnet sich ein klarer Sieger ab. Während der viel zu leichte Publikumsliebling "Novelty" als auch die zu schwere "Sans Pareil" den Anforderungen nicht gewachsen sind und mit Maschinenschaden liegen bleiben, macht Stephensons Rakete das Rennen. Schneller als verlangt, dampft die "Rocket" zuverlässig auf der 50 Kilometer langen Teststrecke hin und her. Und George Stephenson erreicht den Werbeeffekt, den er sich erhofft hatte. Nach dem legendären Rennen von Rainhill steigt die Zahl neuer Bahnlinien explosionsartig und die Zeitung "The Scotsman" prophezeit: "Diese Versuche werden unsere Zivilisation stärker prägen als irgendetwas anderes, seit die Presse den Menschen die Pforten der Wissenschaft geöffnet hat."
Stand: 06.10.09