Im Winter 1846/47 herrscht in weiten Teilen Deutschlands eine Hungersnot - bedingt durch Kartoffelfäule und zwei Getreidemissernten. Wegen ihrer kargen Böden besonders betroffen sind Gebirgsgegenden wie der Westerwald. Der Bürgermeister der kleinen Gemeinde Weyerbusch, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, sorgt sich um die hungernden Bauernfamilien. Er beantragt bei der preußischen Regierung Mehl aus staatlichen Beständen für die Armen. Diese ist dazu jedoch nur bereit, wenn das Mehl verkauft wird. Der evangelisch-religiöse Raiffeisen empfindet diese Anweisung als ungerecht. Er schlägt vor, eine Armenkommission zu gründen, die das Mehl auf Vorschuss verteilt. Daraufhin entsteht der "Verein zur Selbstbeschaffung von Brod und Früchten". Es geht nicht um die Verteilung von Almosen, sondern um Hilfe zur Selbsthilfe. Raiffeisens Prinzip lautet: "Einer für alle, alle für einen."
Geboren wird Friedrich Wilhelm Raiffeisen 30. März 1818 in Hamm im Westerwald. Er ist das siebte von neun Kindern des Landwirts und Bürgermeisters Gottfried Friedrich Raiffeisen. Der alkoholkranke Vater veruntreut Geld aus der Armenkasse und muss daraufhin den Dienst quittieren. Weil die Familie nun mittellos ist, kann Friedrich Wilhelm keine höhere Schule besuchen und wird stattdessen von seinem Patenonkel, einem Pfarrer, unterrichtet. Zunächst will Raiffeisen die Offizierslaufbahn einschlagen, muss den Militärdienst aber aufgrund eines Augenleidens quittieren. Er wechselt zur zivilen Verwaltung und wird 1845 Bürgermeister in Weyerbusch.
1848 wird Raiffeisen Bürgermeister der größeren Gemeinde Flammersfeld. Dort gründet er den "Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte". Dieser Verein hilft den Bauern, Vieh, Arbeitsgeräte und Maschinen zu besorgen. Die Reichen haften mit ihrem Vermögen, die Armen zahlen den Kredit zu einem fairen Zinssatz zurück, wenn sie zu Geld gekommen sind. Raiffeisen initiiert auch den Bau von Straßen. Dadurch können die Bauern ihre Produkte ohne Zwischenhandel selbst verkaufen. Die nächste Station des Sozialreformers ist Heddesdorf, heute Neuwied. Dort gründet er als Bürgermeister 1864 den "Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein". Damit entsteht die erste ländliche Genossenschaft, die Kredite vergibt und die Zinsgewinne in soziale Projekte steckt. Nach seiner Pensionierung beschreibt Raiffeisen 1866 seine Erfahrungen im Buch "Die Darlehenskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Not der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter". Selbst als er kaum noch sehen kann, bereist er unermüdlich das Land und verbreitet seine Idee: Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung. Als Raiffeisen am 11. März 1888 in Heddesdorf stirbt, arbeiten bereits rund 3.000 Genossenschaften in seinem Sinn. Mittlerweile haben sich aus den Notgemeinschaften weltweit mehr als 900.000 Unternehmen im Bankensektor, im Gewerbe und in der Agrarwirtschaft entwickelt.
Stand: 11.03.08