Professor Isak Borg träumt: Er sieht sich durch eine verlassene Straße gehen. Er entdeckt eine große Uhr ohne Zeiger. Auch seine Uhr, die er aus der Tasche zieht, hat keine Zeiger. Ingmar Bergmans Film "Wilde Erdbeeren" beginnt mit einem Albtraum. Der 78-jährige Borg - dargestellt vom ehemaligen Stummfilmregisseur Victor Sjöström - wird von einem Leichenwagen überholt. Der Wagen schwankt, der Sarg fällt zu Boden. Als Borg den Sargdeckel anhebt, sieht er eine Leiche, die seine Züge trägt. Der alte Mann begegnet seinem eigenen Tod. Der Film spielt an einem einzigen Tag. Professor Borg ist auf dem Weg von Stockholm nach Lund. Seine alte Universität will ihn zum 50-jährigen Jubiläum seines Doktortitels ehren. Begleitet wird Borg von seiner Schwiegertochter Marianne, gespielt von Ingrid Thulin. Auf der Autofahrt quälen den Professor Träume und Erinnerungen.
"Wilde Erdbeeren" wird am 26. Dezember 1957 zum ersten Mal in den Kinos gezeigt. Wild wachsende Erdbeeren tauchen in vielen Filmen Ingmar Bergmans auf. Der Originaltitel "Smultronstället" bezeichnet sowohl die Zeit, zu der Erdbeeren reifen, als auch den Ort, an dem man sie pflücken kann. Wilde Erdbeeren sind das Symbol für das verlorene Paradies, die reine Liebe, die Jugend und das Glück. Im Film erinnert sich Borg an seine Jugendliebe Sara, verkörpert durch Bibi Anderson, die Erdbeeren pflückt. Gegenwart und Vergangenheit, Träume und Realität verschmelzen. Die Fahrt wird zu einer bitteren Bilanz von Borgs Leben. Er erkennt, dass er emotional verarmt, kalt und verschlossen ist. Frau und Sohn hat er vernachlässigt.
Wie oft in Bergmans Filmen wird der menschlichen Seele ein Spiegel vorgehalten: "Du bist ein alter, ängstlicher Mann, der bald sterben wird. Du erträgst die Wahrheit nicht", sagt Sara. "Ich habe in allem ständig viel zuviel Rücksicht auf dich genommen. Aber Rücksichtnahme ist nichts als Grausamkeit, die man nicht gewollt hat." Dennoch endet der Film "in einer gewissen Harmonie", sagt Filmkritiker Ulrich Gregor. Vielleicht sei "Wilde Erdbeeren" gerade deswegen ein großer Erfolg geworden, "weil er die Menschen nicht wie in anderen Bergman-Filmen aufs Tiefste verstört und verschreckt". Jugendliche Mitfahrer, die Borg und seine Schwiegertochter auf der Reise auflesen, bringen Leichtigkeit und Humor in die Geschichte. Zudem ist Protagonist Borg außerhalb seiner Träume eine durchaus sympathische Figur. Am Ende der Reise und des Films gibt es für Borg sogar einen Hoffnungsschimmer, dass er sich noch ändern kann.
Stand: 26.12.07