16. August 1943, 11.11 Uhr. Der Zug aus Berlin rollt im Bahnhof Basel ein. Für Fritz Kolbe, Konsularbeamter im Auswärtigen Amt, wird es ernst. Die Grenzkontrolle zur Einreise in die Schweiz steht bevor. Seit dem Vorabend haften zwei Briefumschläge an Kolbes Schenkeln. Noch im Berliner Büro hat er sie mit Bindfaden festgezurrt: zur Vernichtung bestimmte Depeschen, die über seinen Schreibtisch im Vorzimmer seines Vorgesetzten Karl Ritter gegangen sind. Viele sind geheime Reichssachen. Denn Ritter ist der Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes zum Oberkommando der Wehrmacht.
"Mit dem Vorwurf des Verrats hatte ich mich innerlich auseinander gesetzt und ihn überwunden. Hitler war durch Betrug und Gewalt an die Macht gekommen und hatte Deutschland und die ganze Welt in den Krieg gestürzt", schreibt Kolbe später über seinen Akt des Widerstands.
Kontaktaufnahme mit dem US-Geheimdienst
Unter den Geheimdokumenten, die Kolbe aus Deutschland herausschmuggelt, befindet sich nicht nur der Lageplan des Führerhauptquartiers in Ostpreußen, der so genannten Wolfsschanze. Sie enthalten auch Hinweise über die bevorstehende Deportation der Juden Roms. Mit den Unterlagen können auch deutsche Spione in alliierten Auslandsvertretungen entlarvt werden. Tatsächlich, der deutsche Grenzbeamte lässt Kolbe passieren. Sicher darf sich der 42-Jährige dennoch nicht fühlen. Denn in der Bundeshauptstadt Bern, seinem Zielort, wimmelt es von Spitzeln. Obwohl der amerikanische Geheimdienst eine Falle fürchtet, gelingt die Kontaktaufnahme. Der US-Gesandte und spätere CIA-Chef, Allen Dulles, empfängt ihn.
Zurück in seinem Hotel schreibt Kolbe sein Testament, adressiert an die Pflegeeltern seines Sohnes Peter. Nach dem frühen Tod seiner Frau hat er ihn wegen des Kriegsbeginns in Südafrika zurückgelassen, wo er dienstlich stationiert war: "Peter soll in meinem Sinn erzogen werden. Lehrt ihn keinen Hass gegen die Gegner und meine etwaigen Mörder." Der unauffällige Beamte des mittleren Dienstes versteht sich als "deutscher Patriot mit einem menschlichen Gewissen": "Mein Wunsch ist es, den Krieg zu verkürzen." Der am 25. September 1900 in Berlin geborene Sohn eines Sattlers hofft, dass "alle Wörter mit '-ismus' verschwinden werden: Nationalsozialismus, Faschismus und all die anderen."
Rund 1.600 Geheimdokumente geliefert
Kolbe reist noch mehrmals in die Schweiz. Von den Amerikanern erhält er den Decknamen George Wood und liefert während des Krieges insgesamt rund 1.600 geheime Dokumente. Dabei sind auch Zielangaben für Bombardierungen von Waffenfabriken und Abschussrampen von sogenannten V2-Raketen. Nach der deutschen Kapitulation findet er im zerbombten Berlin seine große Liebe wieder: die Sekretärin des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Doch trotz Rückendeckung der amerikanischen Besatzungsmacht wird Kolbe bei der Wiederbegründung des Auswärtigen Amtes nicht wieder eingestellt. Er gilt bei seinen Ex-Kollegen als "Alliiertenknecht" und "Vaterlandsverräter".
66 Prozent der damaligen höheren Beamten im Außenministerium hatten der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört. Kolbe hingegen war nie Mitglied der Nazi-Partei. Er nimmt 1954 eine Stelle als Handelsvertreter einer amerikanischen Motorsägen-Firma an. Fritz Kolbe stirbt am 16. Februar 1971 in einem Berner Krankenhaus an Krebs. Erst die Öffnung der US-Geheimdienst-Archive im Jahr 2000 ermöglichen den Einblick in seine Spionagetätigkeit. Am 9. September 2004 benennt der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) in einer Gedenkstunde einen der Vortragssäle im Auswärtigen Amt in Berlin nach Kolbe.
Stand: 16.02.2006