1990 wählen die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) jene Stadt, in der die olympische Bewegung sechs Jahre später ihr hundertjähriges Jubiläum feiern soll: 1896 hatte Athen die ersten Spiele der Neuzeit ausgerichtet. Daher gilt die griechische Hauptstadt als Favorit für die Vergabe. Doch beim entscheidenden Wahlgang in Tokio verliert Athen mit 35 zu 51 Stimmen gegen Atlanta. Angeblich gibt allein die Wirtschaftskraft der Hauptstadt des US-Bundesstaates Georgia den Ausschlag. Dort haben rund 400 Großunternehmen ihren Sitz - darunter auch der Coca-Cola-Konzern, der über eine Viertelmilliarde Dollar in die Spiele investiert haben soll. Bei der Entscheidung für Atlanta spielt aber offenbar auch Bestechung eine Rolle: "Die Mitglieder des IOC sind je nach Vorlieben mit den absurdesten Sach- und Sonderleistungen bedacht worden", sagt der Buchautor und ehemalige Spiegel-Korrespondent Hajo Schumacher.
Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele am 19. Juli 1996 setzt Atlanta auf die Rede seines berühmten Sohnes Martin Luther King: "I have a dream ..." Auf der Videowand ist noch einmal die Vision des ermordeten Bürgerrechtlers von einer gerechten und friedlichen Welt zu sehen und zu hören. Am Schluss der vierstündigen Feier entzündet überraschend der an Parkinson leidende Ex-Boxweltmeister Muhammad Ali die olympische Flamme. Doch die Idylle trügt: Atlanta ist als ein Zentrum der Begegnung nur bedingt olympiatauglich. "Atlanta-City war seit Jahren unbelebt, da waren nur noch Geschäftsblöcke", erinnert sich Journalist Schumacher. "Da wohnte niemand mehr, rund um die Stadien war große Armut." Dabei hatte die Stadt viel getan, um ihr Erscheinungsbild zu liften und die raue soziale Wirklichkeit auszublenden. Wohnviertel der ärmeren Bevölkerung wurden abgerissen und Obdachlose vertrieben. "Von Mai 1995 bis Mai 1996 wurden 9.590 Obdachlose wegen Herumtreiberei festgenommen", sagt Anita Whittney von einer Hilfsorganisation.
Die Spiele sollen reibungslos verlaufen: Über 300 Millionen Dollar haben die Organisatoren für High-Tech-Sicherheitssysteme ausgegeben und stadtweit 1.000 vollautomatische Überwachungskameras installieren lassen. Dennoch explodiert am siebten Wettkampftag während eines Konzerts im Olympia-Park eine Rohrbombe. Eine Frau wird getötet, über 100 Menschen werden verletzt. Täter ist ein weißer Amerikaner, Mitglied der Christian-Identity -Bewegung, einer rassistischen Gruppe. Die Sicherheitsvorkehrungen werden noch einmal verstärkt, es gibt eine Gedenkveranstaltung und die Spiele werden fortgesetzt - mit herausragenden Leistungen: Der amerikanische Leichtathlet Michael Johnson läuft über 200 Meter in 19,32 Sekunden zum Weltrekord. Frank Busemann aus Recklinghausen holt überraschend im Zehnkampf die Silbermedaille. Die deutsche Mannschaft belegt den dritten Platz in der Nationenwertung.
Stand: 19.07.06